Fastenhirtenwort des Bischofs

Liebe Schwestern und Brüder,

das Volk Gottes feiert ein Jubiläumsjahr, das alle Christen in der Freude darüber vereint, dass Gott, der gütige Vater, uns so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn gesandt hat und für uns hingab bis in den Tod am Kreuz, damit wir in seinem Geist das Leben haben in Fülle (vgl. Joh 10,10).

Wir wollen uns in diesem Jahr fragen, welche besonderen Gnadengaben unsere kleine Diasporakirche in der langen Geschichte einer großen weltumspannenden Kirche empfangen hat. Jede Ortskirche, also jedes Bistum, hat bei allen für die Gesamtkirche verbindlichen Gemeinsamkeiten etwas Besonderes. Was ist das bei uns? Können die Besonderheiten der Geschichte Gottes mit den Menschen in unserem Bistum ein Segen für die Kirche in anderen Regionen sein? Sind wir zu klein und unbedeutend, um dem großen Ganzen etwas geben zu können, oder sind die Erfahrungen unserer Geschichte von Bedeutung für andere Diözesen im 3. Jahrtausend?

1. Die Vorzüge der Diasporakirche

1.1. Die Herausforderung zur Entscheidung

Versuchen wir uns vorzustellen, wie Gott diese Kirche von Dresden-Meißen sieht, dann wird eine Tatsache seine Freude gefunden haben: Irgendwann im Leben musste jeder Diasporachrist, der der Kirche treu geblieben ist, eine bewusste Entscheidung für Gott treffen. Sehr viele wurden dazu durch Angriffe von außen schon im Schulalter herausgefordert. Der Gegenwind gehört in dieser Region seit langem zur Alltagserfahrung eines Gläubigen. Das ist aber eine besondere Chance, eine besondere Gnade für uns. Wenn auch bei weitem nicht alle dem Gegenwind standgehalten haben, gilt für die, die treu geblieben sind, dass sie ihren Weg mit größerer Entschiedenheit gegangen sind, als es häufig in einer traditionellen katholischen Region der Fall ist. Seien wir froh über diese Herausforderungen. Es war nicht immer einfach, gegen den Trend der Zeit anzutreten. Aber das Christsein gewinnt erst seine volle Gültigkeit mit einer freien Entscheidung für den Glauben an den Dreifaltigen Gott. Unser Ja zu ihm ist dem Ja Mariens ähnlich und kommt vom Heiligen Geist. Ein Vorzug der Diasporakirche liegt gerade in dieser für viele unumgänglichen, ganz persönlichen Entscheidung für den Glauben.

1.2. Geschenkte Gemeinschaft

Der Gegenwind hat noch eine weitere Kostbarkeit bewirkt: Wenn es draußen eiskalt wird, rücken die Menschen zusammen. Die unterkühlte Atmosphäre in den Gesellschaften gottloser Ideologien des 20. Jahrhunderts hat die kleine Schar der Christen zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt, die viele Ähnlichkeiten mit der Familie hat. Gemeinsame Feste, gemeinsames Tragen von Schicksalsschlägen, lebendige Sorge füreinander sind gewöhnlich Kennzeichen einer Diasporagemeinde. Das kann der Einzelne unterschiedlich dicht erleben. Das mag von Gemeinde zu Gemeinde in der Intensität beachtlich variieren, aber im Allgemeinen sagen unsere Gemeindemitglieder mit Recht, dass ihre Pfarrgemeinde für sie ein Zuhause ist. Und das ist ein wesentliches Merkmal der Communio der Kirche, der Gemeinschaft in Gott. Ich erinnere mich gern der fast nur nebenbei erwähnten Bemerkung einer Frau nach einem Firmgottesdienst, die sich wunderte, dass eine ältere Christin nicht zum Gottesdienst gekommen war: "Da muss ich gleich nachsehen. Ihr wird doch nicht etwas zugestoßen sein." Diese Reaktion war so natürlich, wie das für eine Familie selbstverständlich ist. Reaktionen dieser Art beweisen ein tiefes selbstverständliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Sich gut verstehen, die Lasten des Anderen mittragen, die göttliche Einheit wenigstens anfanghaft unter den Glaubensgeschwistern erfahren, sind Glücksmomente einer lebendigen Gemeinde.

1.3. Rational begründeter Glaube

Der Zwang zur Auseinandersetzung mit antireligiösen Parolen, oft schon in der Schule, dann aber auch am Arbeitsplatz und sogar im Bekanntenkreis, forderte zu einer vernünftigen Begründung des Glaubens heraus. Ein Diasporachrist konnte sich nicht einfach auf die traditionelle Fortsetzung einer guten Gewohnheit seit Generationen berufen, sondern musste schon seinen Verstand einschalten, um sagen zu können, weshalb er sich für den Glauben an Gott entschied. Aber gerade die Einbeziehung des menschlichen Verstandes in die Glaubensbegründung ist zutiefst christlich. Es war günstig für den denkenden Christen, dass sich der Gegensatz zwischen Glaube und Naturwissenschaft, der von den Marxisten besonders betont worden war, immer mehr auflöste. Die von den Wissenschaftlern erkannten Zusammenhänge im Kosmos gaben im Gegenteil dem christlichen Denkansatz immer mehr Recht. Die unveränderlichen Normen, nach denen das Universum konstruiert ist, und die aus der Natur selbst nicht erklärbaren Konstanten, die alles regeln, was im Kosmos existiert, verweisen den denkenden Menschen über die innerweltlichen Grenzen hinaus. Die Frage nach der Religion ist wieder gesellschaftsfähig. Jeder, der wie Jesus in der Wüste dem teuflischen Versucher widerstand und Gott treu geblieben ist, hat durch göttliche Kraft einen Sieg errungen (vgl. Mk 1,13).

Auch die Folgen einer verantwortungslosen Zerstörung christlicher Werte geben dem Christen, der sich dem modischen Denken der jeweiligen Epoche nicht angepasst hat, nachträglich Recht. Die heutige Welt schreit förmlich nach der Rückgabe des Wertebewusstseins, ohne das eine Gesellschaft im Chaos versinkt, wie Gewalt an den Schulen und auf der Straße zeigt. Jeder, der in den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte mit Herz und Verstand der billigen Anpassung an das Zeitdenken widerstanden hat, ist einer der kostbaren Menschen, die wir brauchen, um eine Zukunft der Ethik des universalen Friedens und wahrer Menschlichkeit aufzubauen. So ist aus Bedrängnissen, in die uns der Geist Gottes geführt hat, wie er Jesus in die Wüste führte (Mk 1,12), manche reife Frucht erwachsen, für die wir Gott danken wollen, und die für die Kirche Westeuropas in der kommenden Zeit für den notwendigen Neuanfang dringend gebraucht wird. Was hat uns da groß geschadet, dass wir aufgrund unseres geistigen Widerstandes von der Besetzung wichtiger Posten in Politik und Gesellschaft bis 1990 ausgeschlossen waren? Jetzt und in der Zukunft können wir die in schweren Zeiten gesammelten Erfahrungen auch über die Grenzen unserer kleinen Diasporakirche hinaus für andere fruchtbar machen.

2. Die Herausforderungen der Zukunft

Die von Gott gegebene Entschiedenheit im Glauben, die Erfahrung von Gemeinde als Familie und der auch in der Vernunft verankerte Glaube sind Gaben, die wir nicht nur für uns selbst empfangen haben. Viele Menschen in unserer Umgebung brauchen unser Glaubenszeugnis. Sie sind nicht so gleichgültig gegenüber den Sinnfragen ihres Daseins, wie es im ersten Augenblick erscheint. Sie suchen nach der Wahrheit. Die heilige Edith Stein hat gesagt: "Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht." (zitiert von Papst Johannes Paul ll.) Viele haben längst gemerkt, dass der Wohlstand und die großartigen Angebote einer freien Welt dem Menschen nicht genügen. Vornehmlich auch die Ungerechtigkeiten einer profitorientierten Gesellschaft provozieren Fragen, die den Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen. Gott hat uns durch sein Wort die entscheidenden Antworten bereits gegeben. Wenn wir unsere Mitmenschen wirklich lieben, müssen wir diese gefundenen Erkenntnisse weitervermitteln. Deshalb gilt:

2.1. Wir haben einen Sendungsauftrag.

"Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen" (Mk 16,15).

Kirche muss zu den anderen hingehen, sie in ihren Nöten und Sorgen ernstnehmen, um Licht in manches Dunkel unserer Zeitgenossen zu bringen. So dürfen wir beispielsweise nicht achtlos an dem vorbeigehen, der unter seiner Dauerarbeitslosigkeit fast verzweifelt. Wir müssen uns interessieren für die Einsamen, besonders auch für die Kranken, die niemanden mehr haben. Selbstverständlich freuen wir uns auch mit denen, die glücklich sind oder Erfolge haben. Kurzum, unsere Gemeinden müssen stärker aufbrechen in die Gesellschaft und bei den anderen sein: Kontaktfreudigkeit, Offenheit, interessiert am Schicksal des Nachbarn und eben auch Bereitschaft, bei der Wahrheitssuche ohne Hemmungen zu helfen, denn: "Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht."

2. 2. Das Bündnis unter uns vertiefen

Manche Gemeinden stellen fest, dass durch die vielfältigen neuen Angebote, die verständlicherweise intensiv nach 1990 genutzt worden sind, die Verbundenheit untereinander gelitten hat. Hier müssen wir uns bekehren. Ohne die lebendige Verbundenheit unter uns Christen nach dem Bild des Dreieinigen Gottes werden wir nicht in der Lage sein, unsere Aufgaben zu erfüllen. Nur Hand in Hand mit Christus mitten unter uns (Mt 18,20; Lk 24,36) haben wir die Kraft, die Zukunft unseres Landes im Geist Gottes zu gestalten.

Lassen wir die in Notzeiten gewachsenen Vorzüge und Charismen unserer Gemeinden in den nun günstigeren Zeiten nicht verkommen; denn sollte einer auf dem Weg der Wahrheitssuche im Wort des lebendigen Gottes fündig werden, wo findet er dann ein Zuhause, wenn wir es selbst verloren haben? Freilich, wir empfinden es alle, dass die Zeit bei den tausend Möglichkeiten, die sich uns heute bieten, sehr knapp geworden ist. Zeit für geschwisterliche Verbundenheit in Christus hat aber Ewigkeitswert. Ewigkeit jedoch kann kein Kalender ersetzen.

So lasst euch einladen in die Familienkreise, Gemeindeabende, zu Wallfahrten und Ausflügen. Bleibt nicht allein. Gemeinsam müssen wir weiter unsere Feste feiern, wie wir es in den harten Tagen so gern getan haben. Miteinander lachen und weinen, singen und tanzen, Gottes Wort meditieren und beten. Auch ich darf euch alle schon heute herzlich einladen zum großen Fest des Bistums im Jubiläumsjahr am Dreifaltigkeitssonntag, dem Sonntag nach Pfingsten, an der Dresdner Kathedrale. Wir haben Grund genug, uns gemeinsam zu freuen, Gott zu danken und ein Zeichen dafür zu sein, dass der Herr auch bei der kleinen Schar alle Tage bleibt (vgl. Mt 28,20).

Der Dreifaltige Gott lasse uns bei diesem Fest und bei allen unseren Festen die Kraft des Einsseins in ihm erfahren, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Dresden, am Fest der Heiligen Cyrill und Methodius 2000

gez. Joachim Reinelt

Bischof von Dresden-Meißen


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