Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2001

Wann öffnen sich Menschen für das Evangelium?


Liebe Schwestern und Brüder,

das Interesse, den Glauben weiterzugeben, ist endlich stärker geworden. Wir interessieren uns wieder für die Menschen außerhalb unserer Gemeinden. Einige in unserem Bistum haben sich besonders dafür eingesetzt, dass die uralten Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens nicht verschüttet bleiben. Das ist schwere Arbeit. Manche harte Nuss ist zu knacken. Die meisten lassen sich nicht so leicht in ihr Inneres schauen. Sie haben Angst, durchschaut zu werden. Wer sich aber mutig öffnet, der zeigt gewöhnlich, dass ihn die gleichen Fragen bewegen, die uns bewegen. Wir finden uns auf dem gleichen "Kanal". Wir können uns verständigen.

Wann öffnen sich Menschen für Lichtblicke des Glaubens?

Wann ist der Mensch unserer Tage für Gottes Wahrheiten erreichbar?

Welche Erfahrungen haben wir in letzter Zeit in unserem Umfeld sammeln können?

Eine gemeinsame Erfahrung kann uns Mut geben: Relativ selten begegnet einem Christen, der Farbe bekennt, eine totale Ablehnung. Da hat sich etwas in unserer Gesellschaft gewandelt. Der Theologe Metz nennt das religionsfreundlichen Atheismus. Ich möchte jedoch raten, mit dem Wort Atheismus sehr, sehr vorsichtig umzugehen. Für gewöhnlich lehnt unser Zeitgenosse Gott nicht bewusst ab. Er stellt sich ihm allerdings auch nicht. Er spürt nämlich mit feinem Instinkt, dass der Anerkennung Gottes ein hoher Anspruch folgt. Das ist manchen zu unbequem. Wenn er jedoch in irgendeine Krise gerät, in der menschliche Hilfe allein nichts mehr bringt, stellt sich ihm wie von selbst die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Aus diesem Grund füllten sich in Zeiten des Krieges, der Hungersnot und der Epidemien die Kirchen. Aber auch in Zeiten des Wohlstandes erlebt der Mensch Krisen, Katastrophen und persönliche Nöte. Dort ist unser Platz. An diesen Stellen sollen Menschen nicht allein bleiben. In Krankheit, Einsamkeit, Enttäuschung, Angst, innerer Leere und Sinnkrise wollen wir bei ihnen sein. Allerdings können wir nur Hilfe sein, wenn wir einige Bedingungen erfüllen, die der in Not geratene Mensch von uns einfordert.



1. Wir müssen selbst Ahnung haben von den Nöten der Menschheit.

Wer sich den bedrängenden Fragen selbst nicht stellt, wer sich selber in kritischen Momenten schont, der weiß gar nicht, was die in Not Geratenen bewegt. Er kann für Hilfesuchende kein Helfer sein.

Wer aber selbst im Leben erfahren hat, dass menschliches Wissen oder Technik nicht in jeder Lage eine Hilfe sind, hat schon begonnen, Zugang zu finden zu einem Menschen, der nicht mehr weiter weiß.

Wer selbst schon Hunger hatte nach Gerechtigkeit, wird eher Zugang haben zu einem, der nach Gerechtigkeit schreit.

Wer selbst schon Durst hatte nach Trost, kann eher Tröster sein.

Wer selbst schon unter der Härte des Wettbewerbs gelitten hat, wird eher Obdach sein können für manche geistige Heimatlosigkeit.

Wer sich selbst schon bloßgestellt sah, wird eher den andern mit Güte bekleiden können.

Wir müssen die Gerichtsparabel Jesu in Matthäus 25 neu buchstabieren auf die Nöte unserer Tage. Wir müssen den Herrn erkennen in denen, die heute nicht besucht werden in ihren erschütternden Hilflosigkeiten, die sich ihr Gefängnis selbst gebaut haben und nicht mehr rauskommen.

Wer also einer Not schon ins Auge geschaut hat, der wird kompetent, fähig zur Hilfe. Er wird nicht mit billigen Tröstungen kommen, sondern zuhören, verstehen und mitleiden.

Das ist einer der wirksamsten Wege, an den Kern der Botschaft Jesu heranzuführen.

Jesu Vaterunserbitte "führe uns nicht in Versuchung" ist deshalb überzeugend, weil er selbst die Not der Versuchung erlebt hat. Hinter seiner Bitte "unser tägliches Brot gib uns heute" steht die Erfahrung des Hungers nach vierzigtägigem Fasten. Jesus hat die Menschheit nur gelehrt, was er selbst erfahren oder erlitten hat. Deshalb gilt für uns: Wir müssen wenigstens etwas Ahnung haben von der wirklichen Not des Menschen von heute. Sonst fehlt unserem Bemühen um Weitergabe des Evangeliums die Glaubwürdigkeit. Wir müssen etwas vom Sterben berührt haben.

Wer sich Zeit nimmt für Suchende, wer aufgeschlossen ist für die heutigen Probleme, wer gar bei einem Kranken oder Sterbenden ausharrt, findet Annahme, wie Jesus sie fand.

2. Wir sollten Erfahrung mit der Stille haben.

- das ist eine zweite Bedingung für wirksame Weitergabe des Glaubens. Unser Zeitgenosse erlebt sich gejagt von Terminen und Programmen. Wenn der Christ auch nur von Terminzwang, Lärm und Unruhe gehetzt ist, fehlt ihm eine wesentliche Erfahrung, nach der ein Suchender große Sehnsucht hat. Hinter der Erwartung, dass der Christ aus der Stille kommen muss, steht vermutlich wieder ein menschlicher Instinkt dafür, dass man Gott nicht wie ein Ding erschließen kann. Von Gott kann man nicht wie von einem physikalischen Vorgang reden. Thomas von Aquin hat gesagt: "Gott ehren wir, indem wir von ihm schweigen." Weil wir uns an ihn nur herantasten können, bedarf es des Schweigens.

Ich habe eine Mutter von sechs Kindern kennen gelernt, die trotz ihrer vielen Arbeit täglich eine halbe Stunde des Gebetes in Stille pflegte, weil sie meinte, sonst könne sie nicht überleben.

Wer das Zeugnis des Glaubens von uns entgegennimmt, erwartet, dass wir aus der Stille kommen.

Das meditative Element des Christseins, das ruhige Hineinschauen in das, was Gott uns sehen lässt, ist überlebenswichtig. Wir sollten dieses Element der stillen Konzentration auch in unseren Eucharistiefeiern pflegen. Das verlangt schon von Anfang an eine disziplinierte Ruhe. Wortinflation und geschäftige Aktion gehören nicht in den Gottesdienst. Wer einen Dienst am Wort übernimmt, muss erkennen lassen, dass er selbst ein Lauschender ist. Immer wieder sollten Gabenbereitung und Danksagung nach der Kommunion Orte des stillen Gebetes sein, das die Orgel meditativ begleiten kann. Das Hochgebet kann, in ruhiger Weise gesprochen, zu einer geistlichen Erholung und fruchtbaren Konzentration werden, wenn diese wunderbaren Texte innerlich nachvollzogen werden. Die Stille nach dem "Lasset uns beten" muss länger eingehalten werden, damit jeder sich und seine Anliegen in das danach nur zusammenfassende Gebet einbringen kann. Geben wir unseren Gottesdiensten die Ruhe, die Meditation zurück. Hektik gibt es heute genug. Jesus hat mit seinem öffentlichen Auftreten erst nach dem langen Schweigen in der Wüste begonnen. Auch wir können erst dann bei anderen "ankommen", wenn wir in der Stille waren.

3. Wir brauchen Gemeinschaft

Wer die Wahrheit Gottes weitergeben will, muss bedenken, dass er dies nicht kraft seiner eigenen Autorität tun kann. Gott sendet ihn. Diese Sendung aber hat Gott unaufgebbar in eine Gemeinschaft, in die Kirche, eingebunden.

Papst Johannes Paul II. hat deshalb in seinem Schreiben für das neue Jahrtausend gesagt: "Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen...Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, ... indem man den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit lenkt, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muss."

Wenn wir also unsern Schwestern und Brüdern ins Gesicht schauen, können wir Spuren des Dreifaltigen Gottes entdecken: Sehnsucht nach Miteinander, Glück der Begegnung, Freude am Andern, Wille zur Gemeinschaft. Allein dastehen müssen, von allen guten Geistern verlassen sein, das ist Hölle.

Wenn der Mensch das Du, das Wir, so dringend braucht, dann liegt hier die besondere Chance der Kirche, der Gemeinschaft durch Christus. Das erwartet die Welt mit Recht bei uns: Haus der Gemeinschaft, Schule der Gemeinschaft, echte Freundschaft, Platz und Zeit für den Bruder, die Schwester. Ich bin Geschenk für den anderen, der andere ist Geschenk für mich. Ich würdige das Positive, das Gott im Nächsten gewirkt hat und danke, wenn der andere das Positive Gottes in mir entdeckt. Es kommt zu einem wechselseitigen Zuhören. Wir vertrauen einander, sind offen zueinander, lieben uns gegenseitig. Christus ist bei uns.

In jedem Menschen dieser Erde lebt eine tiefe Sehnsucht nach solcher Gemeinschaft. Jeder ist schließlich nach dem Bild des Dreieinen Gottes geschaffen. Deshalb ist eine gute Gemeinde eine ständige Schule der Gemeinschaft. Wo der geistliche Lernprozess des lebendigen Miteinander gelingt, werden Gemeinde, Gruppe oder Familie anziehend.

Neue kommen, öffnen sich, werden Freunde, wachsen in die Gemeinschaft hinein.

Wir müssen uns ja auch selbst fragen: Wären wir eigentlich noch da, wenn wir die Gemeinde nicht als Gemeinschaft erlebt hätten?

Ich bin jedenfalls als Bischof sehr froh, dass ich mich in der Regel in unseren Gemeinden zu Hause fühlen kann. Stellen wir dieses Geschenk Gottes ins Licht. Da kann so manchem Nachbarn ein Licht aufgehen.

So können wir also sagen,
wer im Leid des Bruders schon Jesu Antlitz entdeckt hat,

wem Gott schon in der Stille in die Seele geschaut hat,

wessen Gemeinschaft die Nähe Christi signalisiert,

der kann für den Nächsten ein Lichtblick sein,

der unvergesslich bleibt und

der Sehnsucht macht nach immer mehr Evangelium.


Dazu segne euch der Dreifaltige Gott, der Vater und der Sohn
und der Heilige Geist. Amen.

Dresden, am Fest der Darstellung des Herrn 2001

gez. Joachim Reinelt

Bischof von Dresden-Meißen



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