Fastenhirtenwort 2002 von Bischof Joachim Reinelt

Familie - Zukunft von Kirche und Gesellschaft

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Dresden-Meißen,


"der Mensch ist ein Familienmensch, denn was wäre der Mensch ohne Vater und Mutter!" So hat ein Wissenschaftler den zentralen Wert der Familie umschrieben. Auch in der Bevölkerung wird der Familie große Bedeutung für ein geglücktes Leben zuerkannt. 75-80 % unserer Kinder wachsen auch heute in einer Normalfamilie auf. Aber Familie ist leider auch sehr gefährdet. In Dresden gab es 1999 rund 1600 Eheschließungen und gleichzeitig rund 1000 Scheidungen. Ein Lehrer einer westfälischen Schule berichtet, dass er zwei Klassen betreut, in denen kein einziges Kind mehr mit beiden Eltern zusammenlebt. Bei diesen fast alltäglichen Katastrophen schaut die moderne Gesellschaft gern weg oder verharmlost sogar das Leid, das sich damit vor allem für die Kinder verbindet.

Auch wenn wir unsere Augen nicht vor den Problemen und Gefährdungen der Familie verschließen, so wollen wir doch heute die wertvollen Seiten der Familie ins Licht setzen. Wir müssen Gott danken, dass er uns auch in diesen Tagen so viele gute Familien geschenkt hat. Bei aller Verwirrung und manchem Chaos gibt es doch auch immer wieder wunderbare Familien.

Eine geistig gesunde Familie kann man am ehesten an den Kindern erkennen.

Glücklich d i e Familie, in der Kinder willkommen sind, willkommen auch mit ihren Grenzen und Schwächen, willkommen in allen Altersstufen mit ihren unterschied-lichen Entwicklungsproblemen, willkommen auch bei mangelhafter Gesundheit und Begabung. Wie groß ist oft gerade die Liebe zu einem behinderten Kind und die strahlende Dankbarkeit eines solchen Menschenkindes gegenüber den Eltern und Geschwistern.

Glücklich d i e Familie, in der Eltern sich nicht fürchten, ihren Kindern notwendige Grenzen zu ziehen. Chaoten werden vor allem dort groß, wo alles erlaubt ist, wo man sich alles leisten kann, wo einem Kind jeder Wunsch erfüllt wird. Wunderbar, wenn das Kind an Grenzen des Machbaren stößt. Das ist eine kostbare Erfahrung für das ganze Leben. Nirgendwo auf Erden kann man alles nach Belieben tun. Nirgendwo auf Erden gibt es grenzenlose Anerkennung. Deshalb ist es gesund und richtig, wenn Eltern nicht zu sehr die schöne Fassade, das hübsche Aussehen der Kinder zur Schau stellen. Die innere Größe macht den Menschen aus. "Gott schaut nicht aufs Gesicht, sondern ins Herz." Deshalb, liebe Mutter, machst du es richtig, wenn du mit deiner heranwachsenden Tochter nicht in Modekonkurrenz trittst, denn deine Tochter braucht in dieser Phase besonders eine Mutter und nicht nur eine Freundin. Deshalb, lieber Vater, ist es hilfreich für deinen Sohn, wenn du ihn nicht an dich fesselst, sondern ihn frei lässt für die herrlichen Abenteuer der Kameradschaft und der Natur. Es ist sinnvoll, Heranwachsenden klar zu machen, dass eine unbegrenzte Zuwendung zu Computer und Fernsehen den wichtigen Freiraum für persönliche Kontakte unnötig einengt. Junge Menschen brauchen viel Zeit, sich selbst, die anderen und die Umgebung ausreichend kennen zu lernen. So können sie ihre Kräfte und Begabungen sinnvoll einsetzen. Sie werden fähig, ihren Willen zu entdecken und zu zeigen. Dadurch lernen sie den Willen anderer zu respektieren. Alle diese Lernvorgänge sind lebenswichtig und gelingen nur, wenn Ruhe, Zeit und Verständnis dafür in der Familie, in Kirche und Gesellschaft eingeräumt werden.

Glücklich d i e Familie, in der die Phantasiefähigkeit der Kinder nicht mit einem Wust von Spielzeug erschlagen wird. Das "E i n f a c h - leben" des hl. Franz von Assisi ist auch für unsere Familien die Vorzugslösung, weil dadurch jeder lernt, das Wenige und Einzelne zu schätzen. Dankbarkeit gegenüber Gott und den Menschen gibt es bei denen, die noch die kleinen Dinge bestaunen können.

Glücklich d i e Familie, deren Feierabend und deren Sonntag die Zeit mit weniger Hektik, dafür aber mit Freude und Zuwendung ist. Wie tut es gut, wenn Eltern und Kinder sich füreinander öffnen und bei Spiel, Spaß und Sport, Musik, Tanz und Wanderung einander erleben. Besondere Bedeutung hat offenbar die gemeinsame Mahlzeit. Nicht umsonst wird der Himmel mit dem Bild des hochzeitlichen Mahles umschrieben!

Ganz besonders aber glücklich d i e Familie, die sich zu einem gemeinsamen großen Lebensziel unterwegs weiß. Sie ist unterwegs zu Gott. Sie läuft nicht ins Leere. Sie müht sich nicht umsonst. Sie kann deshalb auch schwere Tage ertragen. Sie gibt sich nicht auf, wenn Enttäuschungen kommen. Sie kapituliert nie. Es kann doch bisweilen sehr schwierig miteinander werden. Kinder Gottes aber haben so oft die Barmherzigkeit Gottes erlebt, dass sie eben auch selbst barmherzig sein können. Oft wird dann gerade der besonders geliebt, der besonders enttäuscht hat. Auf dem Weg der Vergebung wächst eine Familie tiefer zusammen. Nicht Probleme und Schwierigkeiten trennen uns, sondern die mangelnde Bereitschaft zu verzeihen. Wir haben aber die große Chance, jeden Tag miteinander neu zu beginnen! Wenn man so miteinander Freude und Schmerz in einer Woche erfahren hat, drängt es eine gläubige Familie, alles zum Altar Gottes zu tragen. So bekommt der Sonntag in einer Familie sein besonderes Gepräge. Die Reibungen des Alltags und die sonnigen Stunden der Woche verschmelzen in der Eucharistie am Tag des Herrn durch die göttliche Liebe zu einer Einheit mit der Liebe Jesu zum Vater im Himmel. Daraus entsteht eine Familie im Heiligen Geist, eine Hauskirche. Kirche zu Hause, welch eine Kostbarkeit!

Das Glück einer so geprägten Familie ist die "Pädagogik der Heiligkeit" (Johannes Paul II.). Da wachsen Christen heran, die nicht nur um ihren Glauben wissen, sondern ihn lebendig erfahren. Deshalb ist Familie unersetzbar. Sie pflegt vor allem auch die Kunst des Gebetes. Beten muss man lernen. Im Gebet lernen die Kinder von den Eltern, wie man mit Christus spricht, wie man Vertrauen zum Vater im Himmel entwickelt. Diese Beziehung zwischen Gott und Mensch können Kinder besonders gut von den Lippen der Eltern ablesen. Kinder können hoffentlich auch zu Hause miterleben, wie das Beten Fortschritte macht. Das ganz einfache, wiederholende Gebet kann zum leidenschaftlichen, persönlich tiefen Beten emporsteigen, wenn man sich vom Heiligen Geist führen lässt. So ist es möglich, dass die Familie erlebt, was Christus versprochen hat: "Wer mich liebt, wird von meinem himmlischen Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren" (Joh 14,21). Papst Johannes Paul II. sagt, dass Beten zu einer richtigen "Liebschaft" des Herzens zu Gott führen kann. Beten ist deshalb eine ganz besondere Chance für eine gute Familie. Da wird der Glaube greifbar und wächst.

Schließlich ist die Familie auch der Raum, in dem Kinder die ersten wichtigen Schritte in der Verantwortung für die Welt tun. Wenn sie bei Vater und Mutter Freude an Beruf und Arbeit ablesen, wird das ihre Begeisterung für das Lernen und das Arbeiten anregen. Wo Ordnung und Harmonie, Schönheit und eine gewisse häusliche Eleganz das Heim auszeichnen, wird eine Familie ganz natürlich zur Grundlage einer geordneten Gesellschaft, in der sich der Einzelne nicht auf Kosten der Anderen bedient. Wer mit der eigenen Familie die Schönheit der Schöpfung entdecken gelernt hat, wird die Umwelt sorgsam behandeln. Wer bei seinen Eltern eine bescheidene Eleganz bewundern konnte, wird gewöhnlich einen ähnlichen Geschmack haben. Die Vorbildwirkung der Eltern ist von enormer Bedeutung.

Was wäre der Mensch ohne Vater und Mutter? Welche Zukunft hätten Kirche und Gesellschaft ohne Familie?

Leider genießen längst nicht alle das Glück, in einer vollständigen Familie leben zu können.

Manche Mutter und mancher Vater stehen ganz allein vor dem Berg der Erziehungsaufgaben und der Gestaltung eines guten Zuhause. Wir sollten ihnen unter die Arme greifen.

Manche Eltern haben nicht das Glück, Kinder zu bekommen. Wir dürfen in unseren Gemeinden niemanden mit seinen Lasten allein lassen.

In Familienkreisen, bei Wallfahrten und Ausflügen sollen sich alle eingeladen wissen.

Alle aber sollen sehen, dass die Familie von Gott, dem Schöpfer und Erlöser, als Abbild des Dreifaltigen Gottes gewollt ist. Sie bleibt deshalb das Ideal. Niemandem ist erlaubt, an diesem Fundament der Menschheit zu rütteln. Familie ist zu schützen und zu fördern, soweit das in den Kräften der Kirche und der Gesellschaft steht. So gewähre der Dreieinige Gott unseren Familien seinen reichen Segen, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Dresden, am Fest des hl. Johannes Bosco

Joachim Reinelt

Bischof von Dresden-Meißen

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