Rettungsanker für die, die ganz unten sind

Vier Ordensschwestern kümmern sich in Chemnitz um Randgruppen der Gesellschaft

Chemnitz, 25.04.03 (KPI): Es ist ein sonniger Mittwoch Nachmittag in Chemnitz. Wer sich eine halbe Stunde frei nehmen kann, nutzt die Gelegenheit für einen Spaziergang oder sitzt in der Sonne. Auf dem Hof neben dem rot verputzten Haus in der Gießerstraße, einen Steinwurf weit vom Hauptbahnhof entfernt, steht eine Gruppe Erwachsener im hellen Tageslicht. Es sind junge Männer von vielleicht 18 Jahren darunter, die Ältesten scheinen um die 70 zu sein, auch ein paar Frauen sind dabei. Doch hier genießt niemand das Wetter. Was sie hierher geführt hat, ist Hunger.

Im Flur des Hauses steht Schwester Lumena, 47 Jahre. Seit drei Jahrzehnten gehört sie zu den Missionarinnen der Nächstenliebe – so wird der Orden, den Mutter Teresa 1950 ins Leben rief – offiziell genannt. Schwester Lumena ist gebürtige Schweizerin und eine von vier Nonnen, die in dem renovierten Altbau leben. Ihr Ordenskleid ist schneeweiß, am Saum von Haube und Kleid prangen kräftige blaue Borten, von der Schulter baumelt ein Rosenkranz. Unter der Haube der Tracht, die das Haar komplett verdeckt, funkeln braune Augen unter dunklen, kräftigen Augenbrauen. Seit acht Jahren bewirtschaftet die Gemeinschaft ein eigenes Haus in Chemnitz. Ihre Aufgabe: „Für die Ärmsten der Armen da sein“, sagt Schwester Lumena.

Ein Angebot, das gerne genutzt wird

Die Schwestern haben eine Suppenküche für Bedürftige eingerichtet. Im Erdgeschoss und unter dem Dach des Gebäudes gibt es zudem Räume, in denen kostenlos übernachten darf, wer keine andere Bleibe hat. Unten liegen die Zimmer der Männer, in denen einmal vier, einmal drei Betten stehen, oben die der Frauen. Daneben gibt es Aufenthaltsräume mit ein paar Sofas, einem Regal voll Büchern, einem kleinen Radio.

Es ist nicht viel, was die Schwestern ihren Gästen bieten. Ein wenig erinnert das Haus in seiner schlichten Kargheit und peniblen Sauberkeit an eine Mischung aus Jugendherberge und Krankenhaus. Wer nicht muss, würde hier nicht unbedingt seine Nacht verbringen wollen. Umso überraschender, dass das Angebot der Schwestern regelmäßig und gerne genutzt wird.

„Wer ganz unten ist, für den sind wir der Rettungsanker“, sagt Schwester Lumena. Jeden Tag macht sie sich mit ihren Mitschwestern auf die Suche nach denen, die durch alle Maschen des sozialen Netzes gefallen und hart am Boden aufgeschlagen sind. „Wir gehen an die sozialen Brennpunkte und sprechen mit den Leuten. Es ist eigenartig, wie man immer wieder Menschen findet, die dringend Hilfe brauchen.“

Eigentlich kein Wunder: Die Schwestern treten täglich in Milieus, um die der Durchschnittsbürger gewöhnlich einen großen Bogen macht. Sie unterhalten sich mit Prostituierten und Drogensüchtigen. Sie gehen auf Obdachlose zu, auch wenn die Nase warnt, dass der Betreffende seit Ewigkeiten kein Bad mehr gesehen haben kann. Sie weichen nicht einmal denen aus, die verlaust und mit offenen Wunden auf sie zu wanken.

Neu erfahren: Da ist jemand, der sich um mich kümmert

„Wir laden die Menschen in unser Haus ein“, sagt Schwester Lumena. „Sie haben die Möglichkeit, sich hier zu waschen, was ganz wichtig für ihre Würde ist. Denn mit der Sauberkeit kommt auch das Selbstwertgefühl zurück.“ Und - wer hier strandet, bekommt eine warme Mahlzeit und kann die Nacht im Bett verbringen. Nach Wochen oder Monaten, in denen es bergab ging, eine neue Erfahrung: Da ist jemand, der sich um mich kümmert.

Längst nicht die einzige Aufgabe der Schwestern. Sie muntern Alte und Vereinsamte auf, gehen überlasteten Müttern zur Hand, machen Besuche im Gefängnis. Einen festen Plan hinter all dem haben sie nicht: „Wir sind immer auf der Suche nach denen, die unsere Hilfe am nötigsten haben.“ Langfristiger Erfolg ist ihnen dabei weniger wichtig. „Wir wollen hier und jetzt helfen. Aber wir merken schon, dass etwa unter den Leuten, die zum Übernachten kommen, eine Eigendynamik entsteht, die sie vorwärts bringt. Wer selbst einen kleinen Schritt nach vorn gemacht hat, dem fällt es leichter, anderen Mut zu machen, denen noch die Zündung fehlt.“

So unvorhersehbar und ungewöhnlich die Erlebnisse, die täglich auf die Nonnen zukommen, so strikt geregelt ihr Tagesablauf, der jeweils um 4.40 Uhr beginnt. Eine Stunde Gebet am Morgen und am Abend rahmen den Tag ein, dazu kommen die Feier des Gottesdienstes und Meditation. Zeiten, die die Ordensschwestern ganz bewusst gemeinsam verbringen. Nach dem Frühstück ziehen sie in Zweiergruppen los, suchen immer neu, wo sie helfen können. Am Mittag kehren sie ins Haus zurück. Zwei von ihnen bereiten dann die Suppenküche vor. Die anderen beiden gehen nochmals los.

Vieles, wovon Schwester Lumena erzählt, beschreibt sie mit religiösen Begriffen. Die Dusche eines Obdachlosen vergleicht sie mit der Taufe – „man hat das Gefühl, danach einen neuen Menschen vor sich zu sehen“ –, ihren Weg an die Ränder der Gesellschaft mit der Kommunion – „in den Ärmsten begegnen wir Christus“. Dass der Glaube die Triebfeder ihrer Hilfsbereitschaft ist, darüber bleibt kein Zweifel. Und an diesem Glauben lässt sie auch andere teilhaben. Zu den geistlichen Impulsen, die sie einmal pro Woche anbietet, kommen regelmäßig viele Zuhörer. Dann spricht sie über das Evangelium, beantwortet Fragen zu Religion und Kirche und versucht, ihre Begeisterung von Gott auch an andere weiterzugeben.

Bad putzen und Boden schrubben

Trotzdem drängt sie die Quelle, aus der sie ihre Kraft schöpft, niemandem als Lebensrezept auf. Ein Motto der Gemeinschaft lautet: Lasst jeden dort, wo er steht, besser werden. Das schließt auch den Respekt vor Andersgläubigen ein. Ein Grund, weshalb der Orden mit seinen gut 4.000 Angehörigen selbst in einem Land wie Libyen geduldet ist, das ansonsten jede christliche Religionstätigkeit nahezu unmöglich macht.

Mutter Teresa, die Gründerin ihres Ordens, hat Schwester Lumena noch persönlich gekannt. Wenn sie von ihr erzählt, gerät sie ins Schwärmen. „Sie hat das gelebt, wofür sie einstand. Wenn sie zu Besuch in unser Haus kam, gab es immer viele, die mit ihr sprechen wollten. Aber wenn sie einmal einen Moment Zeit hatte, tat sie die gleiche Arbeit, wie wir übrigen auch, putzte das Bad oder schrubbte den Boden.“ Und auch die Chemnitzer Schwestern nehmen für sich keine besseren Bedingungen in Anspruch als für ihre Gäste. Sie wohnen im ersten Stock des Hauses, doch keine von ihnen hat ein Zimmer ganz für sich allein.

Es ist 15.30 Uhr, als Schwester Lumena die Wartenden in den Speisesaal einlässt. Einige riechen streng, manche schwanken, andere wirken, als hätten sie sich verlaufen. Doch die meisten sind nicht zum ersten Mal hier. In Hufeisenform stehen die Tische im Saal. An den Wänden hängen ein Kreuz und ein Foto, auf dem Mutter Teresa mit einem Finger die Richtung anzugeben scheint. Schwester Lumena spricht ein Vater-unser. Einige beten mit. Dann wird gegessen. Heute gibt es einen kräftigen Eintopf aus Kartoffeln, Wurst und gelben Rüben, den Schwester Ambrosian, eine Inderin, gekocht hat. Zum Nachtisch kommen Lebkuchen und Gebäck auf den Tisch, das im Geschäft keine Käufer gefunden hat. Schwester Jose Immaculate aus Kenia schenkt dazu jedem aus einer großen Blechkanne Orangensaft ein.

Der Orden wirtschaftet vollkommen unabhängig, bezieht keine Unterstützung. Was die Schwestern an Lebensmitteln, an Medikamenten, an Material benötigen, müssen sie von dem bestreiten, was sie geschenkt bekommen. „Es ist fast ein Wunder“, sagt Schwester Lumena, „aber irgendwie langt es immer. Wir vertrauen nie auf feste Abmachungen, sondern verlassen uns immer auf die Güte Gottes.“

Je später im Monat, umso größer der Bedarf

Im Esszimmer klappern die Löffel. Nach zwanzig Minuten ist alles vorbei. Als der große Topf bis auf die letzte Schöpfkelle geleert ist, trotten mit einem leisen Dankeschön alle wieder davon. So geht das jeden Tag. Der einzige Unterschied: Je später im Monat es ist, umso größer die Gruppe, die im Speisezimmer sitzt. Wenn die Sozialhilfe verbraucht ist, wird der Bedarf an Unterstützung größer.

Nur donnerstags, da bleibt das Haus tagsüber geschlossen. Der Donnerstag ist der Gemeinschaft unter den Schwestern vorbehalten. Übernachtet werden darf natürlich trotzdem. Und ihr Frühstück und Abendbrot bekommen die Übernachtungsgäste weiterhin. Schwester Lumena lächelt: „Und wer sonst an unsere Tür klopft und Hilfe braucht, dem helfen wir natürlich auch.“

Michael Baudisch


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