Ein deutscher Mullah am Hindukusch

Militärpfarrer Thomas Bohne aus Leipzig betreut Soldaten in Afghanistan


Pfarrer Thomas Bohne (links) im Einsatz in Afghanistan. Foto: kompass
von Oberfeldapotheker Hartmut Berge (mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: kompass: Die Zeitschrift für Soldat in Welt und Kirche 11/2004):

Kabul/Afghanistan, Camp Warehouse: Heute erwartet mich ein Ortstermin der etwas anderen Art. Es steht kein Interview mit einem Sanitätsoffizier oder Rettungssanitäter, sondern das Anfertigen eines Artikels über unseren katholischen Militärpfarrer auf dem Programm. Auch für mich kein ganz alltäglicher Auftrag. Kann ich die gewohnten Frageschemata verwenden oder muss ich mich auf eine ganz andere Gesprächsführung vorbereiten? All diese vorab angestellten Überlegungen erübrigen sich jedoch schlagartig in dem Moment, in dem mich Thomas Bohne in sein Dienstzimmer bittet. Er begrüßt mich mit einem Strahlen auf seinem Gesicht und diesem unglaublich positiven und einnehmenden Lächeln, welches jeden sofort in seinen Bann zieht. Man fühlt sich sofort wohl in seiner Gegenwart und hat das Gefühl, dass man sich bereits seit Jahren kennen würde.

Alle Strategien hinsichtlich Gesprächsführung oder Aufbau eines Interviews erledigen sich von ganz alleine.
Pfarrer Bohne betreut in Deutschland die Soldaten der Standorte Leipzig (inklusive des Bundeswehrkrankenhauses), Halle und Weißenfels. Seit Anfang Juli ist er nun für die seelsorgerische Betreuung aller Soldaten im Camp Warehouse verantwortlich. Er wird auch noch das Weihnachtsfest und die Jahreswende in Afghanistan verbringen.

Diese Zeit stellt, wie ich selber aus zwei Einsätzen in Mazedonien und dem Kosovo weiß, für alle Kontingentangehörigen eine besonders sensible Phase ihres Einsatzes dar. Gerade dann wird sein Beistand in vielerlei Hinsicht wertvoll und äußerst gefragt sein. Die Tatsache, dass er sich zum ersten Mal in einem Auslandseinsatz befindet, ringt mir Respekt ab. Der erste Einsatz und dann gleich Afghanistan. Wie drücken wir es in unseren Militärjargon immer aus: „Eine interessante, aber sicherlich auch sehr fordernde Aufgabe.“

All diese Überlegungen spielen sich im Bruchteil einer Sekunde in meinem Kopf ab. In seinem Kopf hingegen herrschen ganz andere Prioritäten. Diesen schwierigen Einsatz scheint er innerlich kaum zu registrieren, denn seine Gedanken drehen sich um seine Projekte. Neben der Betreuung der Kontingentangehörigen versucht er, sich auf vielfältige Art und Weise in dieses Land zu integrieren und seinen Menschen zu helfen. Ob er weiß, wie viel er damit für die Akzeptanz der Soldaten hier, aber auch für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan tut? Ohne meine Gedanken zu kennen, wird er mir diese Frage im Laufe der nächsten Stunde ganz von selber beantworten.

Er berichtet mir von einem seiner Projekte. 2.400 Meter hoch gelegen befindet sich südöstlich von Kabul das kleine Dorf Charasagay. Es wurde in den 80er Jahren völlig zerstört. Seine Einwohner waren gezwungen, nach Pakistan zu fliehen. Heute, über zwanzig Jahre später, kehren sie nun mit ihren Familien und auch vielen Kindern, die auf pakistanischer Seite geboren wurden, wieder in ihre alte Heimat zurück – auch ein Erfolg von ISAF. Dieser Erfolg hilft diesen Menschen aber nur mittelbar. Liegt in ihm zwar die Hoffnung auf eine bessere und friedvollere Zukunft begründet, so benötigen sie doch auch ganz handfeste Hilfe.

Dieser Hilfe hat sich Thomas Bohne verschrieben. Er erzählt mir, dass die Bewohner neben ihrem alten Dorf angefangen haben, das teilweise noch von Minen bedroht ist, ein neues zu errichten. Sie formen Lehmziegeln aus Erde, die sie mit Stroh und Wasser vermischen. Aus diesen Ziegeln entstehen ihre neuen Häuser, wobei das Wort Haus bei einem Mitteleuropäer andere Assoziationen auslöst, als das, was ich zu sehen bekomme. Einfachste Hütten – vier Wände, der nackte Boden, manchmal mit einer Decke oder einem einfachen Teppich bedeckt. Das Entscheidende für den anstehenden Winter, der in der Höhe von 2.400 Metern extrem hart ausfallen kann, ist aber das schnelle Bedecken der Häuser mit Dächern. Für eben diese Dächer benötigen die Dorfbewohner dringend Holz.

Pfarrer Bohne begann anfangs damit, sein Projekt im Camp Warehouse vorzustellen und bekam erste Spendengelder von den Soldaten zur Verfügung gestellt. 400 Euro stellten die Initialzündung dar. Im Anschluss daran gelang es ihm, weitere Spendengelder in seiner Gemeinde Leipzig-Lindenau und unter den Angehörigen der Soldaten in der Familienbetreuungsstelle Leipzig zu sammeln. Zusammen mit weiteren Einzelspenden und der Hilfe des Lionsclubs Leipzig, kamen so insgesamt 1.500 Euro zusammen.

Inzwischen konnten sechs Häuser errichtet werden, die den 50 Flüchtlingen Schutz bieten. Männer, Kinder und alte Frauen arbeiten gemeinsam an ihrem Ziel, mit diesem Geld insgesamt zwölf Häuser zu bauen und diese bis zum ersten Schnee winterfest zu machen. Pro Dach werden etwa 200 bis 300 Euro benötigt. ISAF-Soldaten von CIMIC, die für die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit zuständig sind, versuchen derzeit, das Projekt durch die Bohrung eines neuen Brunnens, der die Dorfbewohner mit Wasser versorgen soll, zu unterstützen. Ein- bis zweimal pro Monat fährt Thomas Bohne persönlich mit einer Patrouille zu „seinem Dorf“, um dort die zwischenzeitlich erzielten Fortschritte zu begleiten.

Der Malik (Bürgermeister) des Dorfes empfängt ihn jedes Mal mit offenen Armen und dies nicht nur wegen der direkten materiellen Hilfe, sondern weil Pfarrer Bohne für ihn zu einem Freund geworden ist. Seiner Herzlichkeit und seiner menschlichen Wärme kann sich wahrlich niemand entziehen.

Bei dem zweiten Projekt, das bereits von Pfarrer Bohnes Vorgänger Gregor Ottersbach auf den Weg gebracht wurde, handelt es sich um einen Brunnen, der eine Schule mit Wasser versorgen soll. In dieser Schule, die sich Nau Abade Pol �e Charki nennt, werden 1.500 Kinder in zwei „Schichten“ unterrichtet. Das Wichtigste für diese Kinder, die einmal die Zukunft Afghanistans bestimmen werden, ist eine umfassende Bildung. Manchmal erinnere ich mich selber noch an meine oftmals ungeliebte Schulzeit zurück. Hier wird mir bewusst, welches Privileg ich in Deutschland genießen durfte, und ich kann verstehen, wie sehr sich diese Kinder danach sehnen, lesen und schreiben zu können.
Gerade bei der Tatsache, dass nun auch wieder Mädchen in die Schule gehen dürfen, handelt es sich in einem Land wie Afghanistan um alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Für dieses Projekt hat Pfarrer Ottersbach die benötigten Spendengelder bereits sammeln können. Als Gönner trat der bereits angesprochene Personenkreis auf – 1.500 Euro kamen so zusammen. Besonders freut er sich, dass nach der Errichtung des Brunnens noch etwas Geld für die Anschaffung von Zeltmaterial (für Klassenräume), Schultische und eventuell einige Toiletten übrig geblieben ist. Auch hier unterstützt wiederum der CIMIC-Zug, der in Zusammenarbeit mit den Pionierkräften viele Dinge kostengünstig realisieren kann.

Der beeindruckendste Teil unseres Gesprächs steht mir jedoch noch bevor. Ich möchte mehr über die Eindrücke erfahren, die Thomas Bohne bislang gewinnen konnte. Er berichtet mir, dass er sich anfangs in ein anderes, wenngleich auch faszinierendes Zeitalter zurückversetzt gefühlt habe. Auch das gegenüber unseren Vorstellungen deutlich anders geprägte Menschenbild habe ihn nachdenklich gestimmt. Vor allem aber würde sich gegenüber dem, was wir aus Deutschland gewohnt sind, vieles relativieren.
In Afghanistan können sich Menschen über Dinge und Kleinigkeiten freuen, die uns als völlig irrelevant erscheinen. Wer einmal in die leuchtenden Augen eines afghanischen Kindes geschaut hat, das eine Tafel Schokolade oder einen alten Teddybären, für den es in deutschen Kinderzimmern keinerlei Bedarf mehr gab, geschenkt bekommen hat, spürt ein kaum beschreibliches Glücksgefühl und stellt sich doch auch gleichzeitig die Sinnfrage, die sich aus den Ausprägungen unserer „Konsumgesellschaft“ ergibt. Die Menschen begegnen uns hier mit großer Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass niemand mehr erschossen wird, dass sie ihre Kinder in einigermaßen gesicherten, wenn auch ärmlichen Verhältnissen aufwachsen lassen können und Dankbarkeit dafür, dass sie eine Zukunft planen dürfen und dabei ein Mindestmaß an Menschlichkeit und Unterstützung erfahren.

Thomas Bohne findet ein Miteinander und den Ausdruck von Freude vor, den es in unserer Gesellschaft kaum noch gibt. Gefühle, die vielleicht noch die deutsche Nachkriegsgeneration nachempfinden kann. Aber auch das Großstadtflair Kabuls, welches jedoch anderen Prämissen folgt als das einer Großstadt in Deutschland, fasziniert ihn. Denn über allem schwebt ständig und unausgesprochen das elementarste unserer Menschenrechte – das Recht auf Leben.
Abschließend möchte ich, nach all diesen beeindruckenden Schilderungen, von ihm unbedingt noch wissen, welches sein bislang prägendstes Erlebnis in Afghanistan war. In meiner kleinen, subjektiven und von Wohlstand geprägten Gedankenwelt erwarte ich eine Antwort in Richtung örtlicher Verhältnisse oder Hilfsleistungen, doch über eine derartige Sicht der Dinge ist Pfarrer Bohne längst hinaus. Er zeigt sich tief beeindruckt von einem sehr persönlichen Erlebnis. Sein Patrouillenführer der Einsatzkompanie (EK) 2, Hauptfeldwebel E., der bei den Afghanen in seinem Verant-wortungsbereich großes Ansehen und Vertrauen genießt, hatte ihn in Charasagay als „christlichen Mullah“ vorgestellt und eingeführt. Als der Mullah seines Dorfprojektes bei einem späteren Besuch verkündet, dass er sich sehr über die Anwesenheit des Patrouillenführers freuen, er aber noch größere Freude über den Besuch von ihm, als seines gleichen, empfinden würde, trifft dies Thomas Bohne mitten ins Herz und in die Seele.

Ihn als sein ebenbürtiges christliches Pendant anzusehen ist wohl die größte Ehre und das höchste Maß an Anerkennung und Akzeptanz, welches der Mullah Pfarrer Bohne zuteil werden lassen kann. Die Auszeichnung als „christlicher Mullah“ am Hindukusch bedeutet aber noch mehr – für jeden einzelnen ISAF-Soldaten. Im Rahmen des folgenden Freitagsgebets verkündet der Mullah, dass die Deutschen gläubige Menschen sind und sogar ihren eigenen „deutschen Mullah“ mit im Einsatz und auf dem Panzer haben. Dies stellt für uns alle hier vor Ort eingesetzten ISAF-Soldaten einen nicht zu unterschätzenden Sicherheitsaspekt dar.
Die Frage, wieso er als „deutscher Mullah“ denn keinen Bart tragen würde, beantwortet Thomas Bohne freundlich und mit dem ihm typischen herzlichen und strahlenden Lachen. Mir wird klar, dass es auf dieser Welt stärkere Waffen gibt als Mörser und Granaten – dieses Lachen, die Wärme und die Menschlichkeit, die Thomas Bohne versprüht, gehören mit Sicherheit dazu.

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