Aufruf der deutschen Bischöfe zur Bundestagswahl am 18. September 2005


Bischof Joachim Reinelt
"Es ist nicht hinnehmbar, dass fast fünf Millionen Menschen in unserem Land arbeitslos sind. ... Allen muss eine Chance auf Beteiligung gegeben werden."

Liebe Schwestern und Brüder!

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ So hat uns das Zweite Vatikanische Konzil vor vierzig Jahren in dem Pastoralschreiben über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“ gleich im ersten Satz deutlich gemacht, dass wir Gläubigen aufgefordert sind, uns an der Gestaltung dieser Welt zu beteiligen. Die deutschen Bischöfe nehmen die bevorste-hende Bundestagswahl am 18. September 2005 zum Anlass, an diesen Gestaltungsauftrag der Christen und zugleich an einige wichtige aktuelle Herausforderungen zu erinnern, die bei der Wahlentscheidung für die Zukunft unseres Landes von Bedeutung sind.

● Die Menschen wollen arbeiten. Sie wollen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Es ist nicht hinnehmbar, dass fast fünf Millionen Menschen in unserem Land arbeitslos sind. Zwar kann keine Politik versprechen, dass jedem ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird. Doch die Politik muss die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft so gestalten und die Reformen des Steuersystems, des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme so nachhaltig betreiben, dass Arbeitsplätze erhalten werden und neue entstehen können. Allen muss eine Chance auf Beteiligung gegeben werden.

● Die Menschen wollen auch in Zukunft soziale Sicherungssysteme, auf die sie sich verlassen können. Der Sozialstaat muss durch eine langfristig angelegte Politik erneuert und so gerade im Interesse derjenigen, die auf seine Hilfe angewiesen sind, gesichert werden. Der moderne Sozialstaat muss auch zukünftig die Solidarität mit den Schwachen gewährleisten und zugleich die Bereitschaft und Befähigung zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative fordern und fördern.

● Unsere Gesellschaft wird immer älter. Zudem ist der absehbare und sich beschleunigende Rückgang unserer Bevölkerung ein zentrales Grundproblem unserer Zukunft. In Deutschland werden zu wenige Kinder geboren. Zuwanderung behebt das Problem nicht. Wir wissen dies schon lange, und doch wurden seit Jahrzehnten keine Konsequenzen gezogen. Die Politik darf darüber nicht weiter hinweggehen. Wir brauchen Mut zur Zukunft mit Kindern. Deutschland braucht eine Gesellschaft, die Freude an Kindern hat.

● Die Menschen wollen, dass Ehe und Familie glücken. Auch wenn dies nicht immer gelingt, sind Ehe und Familie für alle Menschen von herausragender Bedeutung. Sie erbringen einen grundlegenden Beitrag für die Entfaltung des Einzelnen und für die Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalb stellt das Grundgesetz Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Wir sehen zwar die Existenz davon abweichender, so genannter alternativer Lebensformen, wehren uns aber mit dem Grundgesetz gegen ihre Gleichstellung mit Ehe und Familie. Wir wenden uns gegen eine schleichende Aushöhlung des Familienbegriffs. Eine zentrale Aufgabe der Politik ist vielmehr die Bekämpfung der strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Familien, die in der Ehe gründen und sie voraussetzen. Wir brauchen eine Politik, die Ehe und Familie schützt und fördert.

● Es muss leider festgestellt werden: Wir leben auf Kosten kommender Generationen. Das betrifft den Umgang mit den natürlichen Ressourcen, aber auch die steigende Staatsverschuldung. Wir müssen so leben, dass wir die Menschen, die nach uns kommen, nicht übermäßig belasten. Die Politik muss bei all ihrem Handeln auch die im Blick haben, die sich heute noch kein Gehör verschaffen können. Dies erfordert die Gerechtigkeit zwischen den Generationen.

● Gott hat jeden Menschen als sein Ebenbild geschaffen und mit unveräußerlicher Würde beschenkt. Die unantastbare Würde des Menschen zu schützen, ist herausragende Aufgabe des Staates. Es ist die Pflicht der Politik, diesen Schutz sicherzustellen, unabhängig davon, ob ein Mensch leistungsfähig ist oder schwach, ob er gesund ist oder krank, geboren oder ungeboren, oder ob er mit einer Behinderung lebt. Dies gilt auch für Gentechnik und Biomedizin. Abtreibung, Euthanasie und das – wie immer begründete – Töten von menschlichen Embryonen können und dürfen wir nicht dulden – um der Würde der Menschen willen.

● Bei allen Problemen, die sich unserem Land stellen, sollten wir nicht vergessen: Deutschland ist ein wohlhabendes Land, das für andere Verantwortung übernehmen muss. Dies gilt für den Aufbau eines solidarischen Europas. Dies ist aber auch erforderlich für den Einsatz zugunsten weltweiter Gerechtigkeit und gegen die Not der Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Deutschland muss sich konsequent an der Umsetzung der von ihm selbst mitgetragenen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zur Armutsbekämpfung, Bildung und Entschuldung beteiligen. So dienen wir auch dem Frieden.

Liebe Schwestern und Brüder, diesen Herausforderungen müssen sich die Parteien in ihren Programmen stellen. Daran müssen wir als Wählerinnen und Wähler ihre Politik messen. Die Hoffnungen und Sorgen der Menschen müssen auch die Hoffnungen und Sorgen der Politikerinnen und Politiker sein. Dabei darf eine verantwortungsbewusste Politik nicht mehr versprechen als sie halten kann. Eine von Vorurteilen und Pauschalierungen genährte Politik, die einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte anbietet, kann die Zukunft nicht gewinnen. Neid zwischen gesellschaftlichen Schichten zu schüren, ist unverantwortlich.
Vertrauen wird die Politik nur gewinnen können, wenn sie von Fairness und gegen-seitigem Respekt, von Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit geprägt und dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Unser Land braucht Politikerinnen und Politiker, die bei der Gestaltung der Politik über den Tag hinaus denken, die mutig Führungsverantwortung übernehmen und die sich an den Grundwerten orientieren, die dem Menschenbild unserer Verfassung entsprechen, das in vielem dem christlichen Glauben verpflichtet ist.
Wir bitten Sie, liebe Schwestern und Brüder, eindringlich, bei der Bundestagswahl im Lichte der dargelegten Leitlinien Ihre Verantwortung wahrzunehmen und von Ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen.


Köln, 22. August 2005


Für das Bistum Dresden-Meißen

gez. Joachim Reinelt
Bischof von Dresden-Meißen



link


Zurück Impressum