Bischof Pickel: Ein gebürtiger Sachse berichtet aus Russland

Saratow, am 9. Oktober 2007


Bischof Clemens Pickel
"Ich hatte manchen Freunden von zwei heranwachsenden Mädchen geschrieben, die täglich barfuß in abgeschnittenen Gummistiefeln 7 km zur Schule laufen müssen. 3.000 Euro Hilfe für Schulkinder kamen als Echo auf jenen Bericht."

Meine lieben Freunde!

Als Leiter eines Büros weiß ich aus persönlicher Erfahrung, was dahintersteckt, wenn man schon wieder über Personalmangel jammern möchte. Wenn der Generalvikar 1520 km entfernt wohnt und der ganze Mitarbeiterstab des Bischöflichen Ordinariats aus einer einzigen jungen russischen Ordensschwester besteht, die kürzlich im Urlaub, dann zur Weiterbildung und dann zu Exerzitien war, was alles gut und nötig ist, und wenn ich selber drei bis sechs Tage pro Woche in Gemeinden unterwegs bin,� dann kann man sich vorstellen, dass nicht jedem Anrufer die Gabe des Verstehens geschenkt ist, wenn hier keiner abnimmt. – “Da muß man aber doch was machen!� klingt es ärgerlich ungeduldig bis mitfühlend ernst durch die Warteschlange, die sich manchmal, wie Dominosteine, in unsere Richtung zu neigen beginnt.

Natürlich habe ich andere Gründe, die mich zum Schreiben bewegen, gute Gründe.

Wenn ich heute, mehr als neun Jahre nach meiner Bischofsweihe, den “guten alten Zeiten� nachtrauere, in denen ich Pfarrer sein durfte, hat das seinen Grund in der damals alltäglichen Nähe zu konkreten Menschen und ihren Schicksalen. Doch darf und will ich nicht undankbar sein. Auch heute weiß der Herr, was ich zum Leben brauche. Wenn ich Reisen, Veranstaltungen, Begegnungen, eingehende Post usw. als seine Fingerzeige verstehe, dann kann ich häufig sehen, wie er still und doch kräftig am Werk ist. Möge meine Seele nie an Sehschwäche erkranken!

Ein paar kleine Beispiele der vergangenen Wochen: Ende August, was dem Ende der Sommerferien in Russland entspricht, waren 160 Jugendliche aus unserem Bistum zum Jugendtreffen ans Asowsche Meer eingeladen. Thema: Familie. Bei bis zu 40 Grad im Schatten war es nicht einfach, die geplanten Vorträge und Arbeitsgruppen durchzuhalten. Die Tage blieben spannend bis zum Schluss, Dank eines guten Teams aus Seelsorgern, Ärzten und jungen Familien. Was mich aber am meisten freute, war eine kleine Erfahrung am Rande. Ist und bleibt doch Christus das Ziel all unserer Bemühungen, auch in der Jugendseelsorge. Eines morgens kam ich eine halbe Stunde vor dem allgemeinen Morgengebet in die provisorisch dafür hergerichtete Kapelle des Ferienlagers. Ich war bei weitem nicht der Erste! Da saßen und knieten Jugendliche und beteten still. – Muss ich das weiter erklären? Für mich war es einer der Höhepunkte jener Tage.

Die Geschichte mit den Gummistiefeln ist auch zu einem Zeichen der Güte Gottes geworden. Ich hatte manchen Freunden nach meinem Besuch im baschkirischen Alexejewka von zwei heranwachsenden Mädchen geschrieben, die täglich barfuß in abgeschnittenen Gummistiefeln 7 km zur Schule ins Nachbardorf laufen müssen. Schotter und Staub verwandeln sich bei Regen in eine rutschige Schlammpiste. Der erste Schnee steht dieser Tage unmittelbar vor der Tür. Insgesamt 3.000 Euro Hilfe für Schulkinder kamen als Echo auf jenen kleinen Bericht. Schuhe für die beiden sind schon gekauft. Wir warten noch ein-zwei Wochen, dann kommt hier die Winterbekleidung auf die Märkte, mit der wir vielen Schulkindern helfen können.

Hier liefen sie noch in abgeschnittenen Gummistiefeln – dank vieler Spender können sich die beiden Mädchen heute über richtige Schuhe freuen.

Eine tiefe Freude anderer Art, erlebte ich vor 10 Tagen im Kaukasus, wo junge Ordensschwestern im letzten Jahr eine Niederlassung in einem armen Dorf (!) gegründet haben und ich jetzt die bescheidene, sehr schöne Hauskapelle weihen durfte. Wie oft erleben wir, daß nur die Alten und Schwachen, darunter auch die Alkoholiker, in den Dörfern zurückbleiben. 1.500 Dörfer sind in den letzten 10 Jahren gänzlich von der Landkarte Russlands verschwunden, hörte ich im Radio. Die Schwestern haben sehr bewusst in die mehrfachen Unsicherheiten dieser Gründung eingewilligt, um eben dort “mit Christus zu sein�.

Nicht der Rede wert, scheint eine einfache Begegnung mit zwei jungen Müttern in Marx, wo ich fast 10 Jahre lebte und Pfarrer war. Ich hatte die beiden jahrelang nicht gesehen, kannte sie als 10-jährige Schulkinder, die sich auf Taufe und Erstkommunion vorbereiteten, während den Eltern das alles mehr als egal war. Die beiden standen mit Ihren Kindern an der Klostertüre der Schwestern in Marx, weil sie Hilfe brauchten, die eine für ihr Mädchen im Kinderwagen, die andere, mit zwei Jungs an der Hand, für sich selbst. Sie ist schwer herzkrank und verdient kein Geld. Eine Sozialversicherung gibt es bei uns nicht. Ich kam zufällig in dem Moment dazu und staunte nicht schlecht, als ich hörte, dass beide schon 25 Jahre alt seien. Einst hatte ich sie aus den Augen verloren. Hatten sie doch niemanden zu Hause, der ihnen half, als sie langsam Jugendliche wurden. Nun sind sie wieder da, nicht um zu betteln, sondern weil sie sich für das Fundament entschieden haben, das zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion in so “haltlosen� Boden gelegt wurde.

Und noch ein Zeichen für das Wirken des Herrn. Am vergangenen Sonntag in Togliatti, was 370 km wolgaaufwärts liegt, begegnete ich nicht nur unserer katholischen Pfarrgemeinde und ihren Seelsorgern, sondern auch dem Dekan der orthodoxen Stadtgemeinden, Pater Nikolaij. Seine 1,90 m hohe Gestalt beeindruckt äußerlich, seine Freundschaft seit vielen Jahren überzeugt innerlich. Aus seinen Worten spricht geistliches Leben.

Sicher hätte ich mit der gleichen Geschwindigkeit, wie diesen Brief, auch über die aktuellen Probleme der katholischen Kirche in Russland schreiben können. Aber wozu? Es ist insgesamt verwunderlich, daß viele nicht müde werden, unbedingt über Probleme und Konflikte zu schreiben (und zu lesen) und sie – ungewollt? – schüren. Das Gute scheint eben keine “Marktlücke� zu sein. Richtig insofern, dass es nicht auf den Markt gehört, sondern nach Hause. Ich wünsche es auch Ihnen allen, ich meine das gute Sehvermögen der Seele!

Morgen werde ich verreisen, diesmal in fünf Gemeinden im Süden meines Bistums, über 1.000 km von Saratow entfernt. Das Tasche-Packen geht manchmal nicht leicht von der Hand, wenn doch auch im Büro genug dringende Arbeit liegt. Mit ziemlicher Sicherheit kann ich aber schon heute sagen, dass das morgen vergessen sein wird.

Allen einen herzlichen Gruß!
Ihr Clemens Pickel, Bischof in Saratow/Russland

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