Krümelchen eines Tages

Bischof Pickel über einen "Alltag" im November


Bischof Clemens Pickel, gebürtig aus Colditz bei Grimma.
Bischof Clemens Pickel, ein gebürtiger Sachse und derzeit Bischof in Saratow in Südrussland, berichtet über einen seiner "Alltage" im November.

„Du hast ja einen langen Tag heute. Ich wünsche Dir viel Kraft und dann gute Nacht.“ – Die SMS meiner Mutter erreichte mich auf dem Saratower Bahnhofsvorplatz, als ich auf dem fast glattgefrorenen Asphalt an zwei Verkehrspolizisten in ihren leuchtend gelben Schürzen vorbei ging. Es waren noch ca. 20 Minuten bis zur Abfahrt „meines“ Zuges, mit dem nicht ich, sondern ein dringender Brief mit sollte.

Die Vorgeschichte begann heute morgen, als ich unter den vielen E-Mail-Briefen im Büro-Computer die dringende Bitte eines Juristen fand, der bis übermorgen früh eine Bescheinigung von mir brauchte, um einer unserer ganz kleinen Pfarrgemeinden im Süden weiterzuhelfen. Die Bescheinigung konnte ich innerhalb weniger Minuten schreiben. Wie aber sollte sie mit Unterschrift und Stempel so schnell in die Hände jenes guten Mannes kommen? Die Post geht 8-10 Tage. Express 3 Tage, mindestens. Mit jemandem mitgeben? Mit wem? Oder jemanden mit dem Auto schicken? 1200 km�?! Ich bat die Ordensschwestern, die mir bei der Arbeit helfen, die nächste Zugverbindung herauszusuchen. Fünf Minuten später, ich hatte inzwischen schon ein paar andere Briefe gelesen, kam Schwester Irina und erinnerte mich an die Sache: „Es gibt nur einen Zug am Tag, der fährt heute abend um 23.40 Uhr und kommt morgen um 23.28 Uhr in Krasnodar an.“ – „Also noch pünktlich“, erwiderte ich. – „Die nehmen aber keine Briefe mehr mit“, erklärte die Schwester. Sie weiß es. Haben wir doch öfters etwas mitzugeben. Das Personal der Züge in Richtung Kaukasus scheint streng instruiert zu sein, oder wirklich ängstlich, weil das Gespenst des Terrorismus da unten umgeht. Ich ließ den Zettel mit der Abfahrtszeit auf meinem Tisch liegen und machte mir einen Vermerk mit Erinnerungston im Handy, damit ich abends an den „Brief“ denke.

Der Tag war ein gewöhlicher Arbeitstag im Büro. Viel Schriftliches, ungewöhnlich viele Anrufe, kaum Gäste. Beim schnellen Mittagessen, allein in meiner Küche, hörte ich Regionalnachrichten. Ein Mann hatte gestern im Zug hier in Saratow eine halbe Million Rubel vergessen. (Das sind 14.500 Euro.) Die Wagon-Schaffnerin hat es gefunden und bei der Polizei abgegeben. Den Mann hat man dann auch gefunden, in einem – Wie nennt man das? – „Ausnüchterungsgewahrsam“. Er hatte sich im Zug so sehr betrunken, dass er den Verlust seines Vermögens, mit dem er eine Wohnung kaufen wollte, noch gar nicht bemerkt hatte. Das fiel mir abends am Zug wieder ein.

Per SMS fragte ich unseren Ortspfarrer, der mich gerade als Generalvikar im 990 km entfernten Asow vertrat, wieviel er gewöhnlich den Schaffnern gebe, damit sie einen Brief mitnehmen. 100 Rubel, antwortet er. Das war vertretbar. Ich legte zum offenen Umschlag noch einen unserer Taschenkalender für nächstes Jahr dazu. Kleine christliche Geschenke lehnt hier selten jemand ab, wenn nicht aus Frömmigkeit, dann aus abergläubischer Angst, die Verweigerung des Geschenks könnte einem Der da oben übel nehmen.

Zur Abendmesse war ich beim Kaplan in der Kathedrale. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich komme. Auf die Frage, ob er predige, lehnte er fröhlich ab. Das wolle er doch mir überlassen. Ich kenne ihn, seit er als Zehnjähriger in Marx zum Religionsunterricht kam, wo ich Pfarrer war. Er hat nicht aus Faulheit abgelehnt. Ich wollte ihm nichts wegnehmen und nahm ebenso fröhlich an. Die Texte aus der Offenbarung und dem Lukasevangelium waren sehr schön.

Abends setzte ich mich wieder ins Büro und begann am Brief für meine Priester, Ordensleute und Pfarrgemeinden zu basteln, den ich zum 1. Adventssonntag verschicken will. Eigentlich habe ich den Vorsatz, nach der Abendmesse nicht mehr an den Schreibtisch zu gehen. Heute war eine Ausnahme, wegen des Zuges. Ich wollte besser nicht ans Schlafen denken.

Beinahe hätte ich dann auch noch den Zug verpasst. Das Schreiben des Adventsbriefes ging leicht von der Hand. Ich schaute selten auf die Uhr. Advent ist etwas ganz besonders in unserem Leben mit Gott.

Zehn nach elf ging ich aus dem Haus, in dem ich wohne und arbeite. Abends ist der Hof immer dicht vollgequetscht mit Autos. Wer hier noch kein Auto hatte, hat sich jetzt eins gekauft. Die Leute haben Angst, dass das Geld verfällt. Die Krise des bösen Westens wirft ihre Schatten auf�s Land. Auf den Straßen war es schon ruhig. Innerhalb von 10 Minuten war ich mit meinem Brief am Bahnhof, fand sofort einen Parkplatz, stieg aus und bekam die oben genannte SMS.

Der Zug, den ich brauchte, steht 40 Minuten in Saratow. Auf der Anzeigetafel im Bahnhofsgebäude sah ich, dass er pünktlich gekommen war. Die Zusteiger müßten alle schon untergebracht sein. An den warmen Plätzen im Bahnhof, wo im Winter Obdachlose stehend schlafen, lagen vorläufig nur Straßenhunde. Ich schritt Richtung Tunnel zu den Gleisen. Ein Stoßgebet, dann war ich auch schon am fast dunklen Bahnsteig. Wo anfangen? Der 100 Meter lange Zug hat in jedem Wagen einen Schaffner, zwei sogar, denn es ist ein Zug von Sibirien ans Schwarze Meer. Er ist fast fünf Tage unterwegs. „Personalwechsel“ gibt�s hier nicht. Drei Tage haben die Leute schon hinter sich.

Gewöhnlich stehen die Schaffner vor ihrer offenen Wagontür. Da stehen aber auch andere, die zum Rauchen oder Beine Vertreten ausgestiegen sind. In Gegenwart anderer zu bitten, hat keinen Sinn. Ich lief von Wagon zu Wagon. Da erkannte ich drei Polizisten am Bahnsteig. „Also weiter“, dachte ich. Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass zwischen den Polizisten und einer offenen Wagentüre ein Haufen Lumpen oder etwas ähnliches lag. Dann endlich fand ich eine Schaffnerin, die ich bat, meinen Brief mitzunehmen. „Nein“, war die Antwort. Lächelnd und als ob das 100%-ig klar sein müßte, fügte sie nichts hinzu und verschwand in ihrem Wagen. Ich rief ihr nach, wo denn der Zugchef sei? „Wagen 10“, rief sie zurück. Es bleiben noch 7 Minuten bis zur Abfahrt. Ich also wieder zurück. Nun schaute ich nochmal auf das Bündel auf dem Boden neben den Polizisten. Es war ein Toter, den man doch wohl aus dem Zug gelegt hatte. Nur die Füße schauten unter der feuchten dunklen Decke hervor. Niemand dabei, also war er (oder sie) allein gereist. Armer Mensch! Auch fiel mir der Betrunkene wieder ein, der nur sein Geld im Zug verloren hatte.

Es war wenig Zeit. Am Wagen 10 stand eine Frau im Dienstmantel, die mir zwar sofort erklärte, dass sie nicht die Zugchefin sei, aber sich trotzdem erkundigte, was ich denn wolle. Dann nahm sie mich mit in den Wagon. „Kommen sie, kommen sie!“ Dann endlich wurde ich mein Anliegen und den Umschlag los. Natürlich wurde der Brief auf seinen Inhalt geprüft. Danach durfte ich ihn zukleben. „Wohin? An wen? Und wer sind sie?“ Ich hätte den Brief im Handumdrehen wieder zurückbekommen, wenn ich gesagt hätte, dass ich Bischof bin. Man läßt sich doch nicht in nüchternem Zustand von einem Ausländer kurz vor Mitternacht verklapsen. „Ich bin ein Priester, hier aus der Stadt“, sagte ich, und reichte gleich dazu den Kalender. Er löste ein ehrlich dankbares Lächeln aus. Ich fragte beim Verlassen des Abteils nochmal nach der Ankunftszeit: „Also morgen abend 23.28 Uhr?“ – „Ja.“ – „Danke. Wiederseh�n!“

Taxifahrer vor dem Bahnhof setzten zu Ihren Sprüchen an, von wegen „Billig“, „Jetzt fährt kein Bus mehr“, „Wohin wollen sie?“ Ich hielt meinen Autoschlüssel leicht sichtbar in der Hand. Das ersparte das Antworten.

Die Heimfahrt ging noch schneller als hin zum Bahnhof. Meine Parklücke im Hof war noch frei. Nun bin ich nochmal kurz ins Büro gekommen, um das hier aufzuschreiben. Alles nichts Besonderes, wenn man schon 18 Jahre hier wohnt! Krümelchen eines Tages, nämlich des 18. Novembers 2008. Langweilig ist es aber deshalb noch nicht geworden.

Clemens Pickel


Zu den Internetseiten von Bischof Pickel hier klicken...


Zurück Impressum