Ostern im Konzentrationslager

Erinnerungen von Prälat Hermann Scheipers


Pfarrer Scheipers erzählt
Er erlebte die Hölle von Dachau: Prälat Hermann Scheipers, Priester des Bistums Dresden-Meißen. Hier schildert er seine Erinnerungen und Gedanken an Ostern im KZ Dachau.

Ein Frühlingsfest ist Ostern für viele, - auch schon für Goethe in seinem „Osterspaziergang“. Für die Kinder: Osterhasen – und Ostereiersuchen. Erwachsene planen für die Ostertage Ausflüge, Reisen, Sport, Besuche, Partys.
All das gab es nicht im KZ.

Aber es gab die Chance, das wahre Ostern, nämlich die Todeshingabe unseres Herrn am Kreuz und seine Auferstehung neu zu begreifen und in seiner Nachfolge zu akzeptieren.
Ostern ist ja nicht ein isoliertes Fest im Kalenderjahr, an dem wir die Auferstehung Christi feiern. Ostern beginnt am Gründonnerstag-Abend mit der Eucharistiefeier unseres Herrn. Jesus schenkt seinen Leib und sein Blut für uns und vollzieht diese seine Hingabe am Karfreitag durch seinen Kreuzestod.

Durch seinen Opfertod am Kreuz aber erringt er den Sieg am Ostermorgen, nicht nur für sich, sondern für alle, die ihm folgen auf dem Weg des Kreuzes, auf dem Weg der Hingabe. Was das für uns bedeutet, sagt uns Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi: „Christus will ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden. So will ich seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich zur Auferstehung von den Toten gelange.“

In der dritten Strophe seines Liedes „Von guten Mächten wunderbar geborgen �.“ drückt dies wunderbar aus der bedeutendste Mann im evangelischen Widerstand gegen die Nazis, Dietrich Bonhoeffer. Da heißt es: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“ Bei der ersten Eucharistiefeier im Abendmahlssaal nahm Jesus „den bittern Kelch des Leidens an bis an den höchsten Rand.“

Der Weg des Kreuzes war im KZ vorprogrammiert: „Ehrlos, wehrlos und rechtlos“, so der Kommandant bei unserer Einlieferung, waren wir der dämonischen Brutalität unserer Henker ausgeliefert. Und Henker waren nicht nur die SS-Schläger, sondern auch die „Kapos“ und Funktionshäftlinge (privilegierte Mithäftlinge im Dienst der Schutzstaffel/SS).

Auf diesem Weg des Kreuzes musste sich der Häftling entscheiden: entweder für den Weg egoistischer Selbstbehauptung oder für den Weg der Selbsthingabe in der Nachfolge Christi. „Hier kannst du nur fluchen oder beten“, sagte mir ein Mitgefangener gleich in den ersten Tagen meiner Haft. Das war für mich erschreckend, dass viele durch den Überlebenskampf selbst zu Verbrechern wurden. Ich erlebte aber auch, dass viele – wie Maximilian Kolbe, der in Auschwitz freiwillig den Tod im Hungerbunker wählte, um einen Familienvater zu retten – sich in äußerste Lebensgefahr begaben, um das Leben anderer zu retten.

Das Wunder der Selbsthingabe



Der Publizist Joseph Joos, Dachau-Häftling von 1941 bis 1945, schreibt in seinem Buch „Leben auf Widerruf“ (Seite 21) „Hier, in jedem Augenblick vor dem Allerletzten stehend, musste der Häftling wachsen oder abnehmen, mehr werden, als er vorher war, oder weniger. Stehen bleiben war nicht denkbar, weil der Möglichkeiten zu sinken, zu viele waren.“ Blaise Pascal sagt dazu ermutigend: „Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.“
Man kann mein Überleben aus jahrelanger KZ-Haft als Wunder bezeichnen. Größer aber, als die Rettung für ein paar Jahrzehnte irdischen Lebens, ist das Wunder der Selbsthingabe, dass ich vor allem an drei Mitbrüdern erlebte, wie sie mitten in der Hölle von Dachau weit über sich hinausgewachsen sind durch liebende Hingabe bis in den Tod:

1. Karl Leisner. Seine heiß ersehnte Priesterweihe in Münster verpasste er infolge der plötzlichen Verhaftung. Gottes Vorsehung holte sie nach – mitten im KZ – durch einen französischen Bischof kurz vor seinem Tod. Ich durfte seine Primizmesse, seine erste und zugleich letzte heilige Messe miterleben. Seine Tagebücher – nach dem Krieg aufgefunden im Gestapokeller in Münster – offenbaren eindrucksvoll sein Ringen um die totale Hingabe. Seine letzten Worte: „Liebe, Sühne, segne, Höchster, auch meine Feinde.“

2. Werner Sylten. Dieser evangelische Pfarrer Werner Sylten war mit mir in Dachau auf der gleichen Stube, Block 26/3, in der die verhältnismäßig wenigen evangelischen Pfarrer alle untergebracht waren. Er war mit mir befreundet; zeitweise habe ich mit ihm zusammen auf der SS-Plantage gearbeitet. Werner Sylten hatte einen jüdischen Vater. Deshalb warf ihn die von den „Deutschen Christen“ geführte Thüringische Landeskirche 1936 aus seinem Amt. Von da an schwebte er in Gefahr, von der Gestapo verhaftet zu werden.

Dennoch übernimmt er im „Hilfsbüro für nichtarische Christen in Berlin“ (Büro Grüber) die Aufgabe, durch Verhandlungen mit kirchlichen und staatlichen Stellen Ausreisegenehmigungen für Menschen jüdischer Herkunft zu erreichen. Vom britischen Innenminister wird ihm ein Blanko-Visum angeboten. Er hätte damit sein Leben durch Emigration retten können. Er nimmt es nicht für sich an, sondern gibt es weiter.

Aus seiner Haft in Dachau schreibt er an seine Ehefrau: „Im Leid dieser Zeit wollen wir uns dankbar erinnern, wie viel Gutes uns doch auch begegnet ist im Leben. Und haben wir das Gute aus Gottes Hand empfangen, sollen wir nicht auch willig das Schwere aus Gottes Hand nehmen, wenn er es uns schickt? Freilich, wir werden immer darum ringen müssen: Unser Herz sehnt sich nach Glück und Frieden und Gemeinschaft desto mehr, je mehr es dessen entbehren muss.“

Im Hungerjahr 1942 gerieten wir beide auf den Invalidenblock, er wegen einer Furunkulose und ich infolge eines Schwächeanfalls. Weil Dachau noch keine eigene Gaskammer hatte, wurden von da jeden Samstag die „lebensunwerten“ Todeskandidaten nach Schloss Hartheim in Österreich transportiert und dort in der Gaskammer ermordet.

Es war eine völlig aussichtslose Situation: Es gab absolut kein Entrinnen mehr, wenn man auf dem Invalidenblock gelandet war. Von den 3.166 Häftlingen, darunter 336 Priester, die allein im Jahr 1942 von Dachau aus nach Hartheim überstellt wurden, ist keiner seinem Schicksal entkommen. Nur zwei Priester wurden noch von da gerettet: Der Luxemburger Jean Bernard und ich. Er durch seinen Bruder, der gute Kontakte zu hohen Militärs in Paris hatte und ihn zwei Tage vor dem Abtransport herausholen konnte. Und ich durch die Intervention meiner Zwillingsschwester Anna beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Jean Bernard hat der Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff in seinem Film „Der neunte Tag“ ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Die besondere Tragik des Schicksals von Werner Sylten liegt darin, dass er als der 336. Geistliche am 12.08.1942 noch auf Transport ging und in der Gaskammer von Hartheim ermordet wurde. Ich wäre der 337. gewesen, wenn meine Schwester nicht am Tag darauf, also am 13.08., in Berlin meine Rückverlegung auf den Arbeitsblock erreicht hätte, zusammen mit allen noch nicht vergasten Priestern. Das ganze Leben und Sterben von Werner Sylten aber war Hingabe in der Freiheit selbstloser Liebe.

„Tut dies zu meinem Gedächtnis“

Vom dritten Mitbruder kann ich nur in tiefer Ehrfurcht sprechen, denn ich erlebte seine Todeshingabe – für mich.
„Wer sein Brot teilt, der schenkt sich selbst.“ Jesus tat das beim letzten Abendmahl. Er tut es bei jeder Eucharistiefeier. Er tut es, damit wir das Leben in Fülle haben. Jesus bricht das Brot und schenkt sich selbst: „Hier habt Ihr meinen Leib, für Euch wird er hingegeben“. Doch mit seinem Auftrag „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ meint Jesus nicht bloß, dass wir die Eucharistie feiern sollen. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ – das ist ebenso Auftrag für uns alle, mit jedem Menschenbruder unser Brot zu teilen, Liebe zu schenken, füreinander zu leben, das Leben zu verschenken.

1942 im KZ Dachau. Rings um uns elektrisch geladener Stacheldraht, und innerhalb des Lagers bin ich noch besonders eingesperrt hinter dem Stacheldraht des Invalidenblockes. Auf Grund meines Schwächeanfalls sehe auch ich dort zusammen mit den selektierten (d.h. ausgesonderten) Todeskandidaten als „lebensunwertes Leben“ meinem Abtransport nach Hartheim entgegen.

Da kommt eines Abends mein Mitgefangener, der Jugendseelsorger des Bistums Dresden-Meißen, Dr. Bernhard Wensch, heimlich im Schutz der Dunkelheit zu mir und reicht mir durch den Stacheldraht des Invalidenblockes das Kostbarste, was er schenken konnte: seine Brotration für den Tag. Brot war das Einzige, was er überhaupt noch essen konnte, denn er litt an schrecklichem Durchfall. Auch die älteren unter uns haben es längst wieder vergessen, was das bedeutet, wenn man praktisch nur von Wassersuppen leben muss.

Ich hätte damals dies Stück Brot gar nicht annehmen dürfen, aber ich ahnte nicht, wie schlimm es um meinen Mitbruder stand. Er schenkte mir sterbend sein letztes Brot. In ihm ist mir Jesus Christus selbst begegnet als der sich Schenkende im Zeichen des Brotes. Er opferte ja damit buchstäblich sich selbst, sein eigenes Leben. Denn bereits zwei Tage nach meiner wunderbaren Befreiung aus dem Invalidenblock starb er den Hungertod (am 15.08.1942) im Krankenrevier des Lagers.

Was Bernhard Wensch damals für mich tat, habe ich nie mehr vergessen. Vor allem, wenn ich bei der Eucharistiefeier das hl. Brot breche, steht mir das vor Augen. Wie Jesus im Abendmahlssaal sah er nicht auf sich, auf seinen Vorteil, auf sein Leben. Er sah nur mich, seinen Mitbruder in unmittelbarer Todesgefahr.

„Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen den Leiden unterwarf, brach er das Brot“, so heißt es in der Leidensgeschichte unseres Herrn. Und seitdem wird er immer wieder am Brotbrechen erkannt, wie wir es aus der Emmaus-Geschichte kennen. Sein nahes Ende vor Augen, hat Bernhard Wensch in wunderbarer Freiheit die Todeshingabe seines Herrn und Meisters nachvollzogen. Er tat dies im Konzentrationslager Dachau, in dem das dämonische irrational Böse im Menschen Triumphe feierte. Diesem irrationalen Bösen setzte er das irrational Gute entgegen. Denn seine Tat war doch einfach unfassbar, dafür gibt es keine rationale Erklärung.

Vernünftigerweise hätte er sich doch sagen müssen: In meinem körperlichen Zustand brauche ich das Brot für mich selbst, um überleben zu können. Ihm nützt es nichts mehr – in ein paar Tagen endet sein Leben doch sowieso in der Gaskammer. Aber er wollte mir, dem Todeskandidaten, eine letzte Freude machen und wie Christus seine Liebe bis zu Vollendung schenken.

„Victor quia victima“, so steht es auf meinem Primizkelch. Er – nämlich Christus – wurde Sieger, weil er sich opferte. „Victores quia victimae“ – Sie wurden Sieger, weil sie geopfert wurden. So steht es in der Gaskammer des Schlosses Hartheim auf der Gedenktafel für unsere dort ermordeten Mitbrüder. Denn Hingabe in der Freiheit selbstloser Liebe – das ist Fülle des Lebens – „Geheimnis des Glaubens – im Tod ist das Leben“.

Hermann Scheipers





Lesetipp:
Hermann Scheipers, „Gratwanderungen – Priester unter zwei Diktaturen“, St. Benno-Verlag GmbH Leipzig, 6. Auflage 2007, 204 Seiten, zahlreiche teils farbige Abbildungen, Format 13 x 20,5 cm, gebunden, ISBN 978-37462-1221-0, Ladenpreis 9,90 Euro.

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