"Jetzt ist die Zeit zum Reden. Die Wahrheit muss an den Tag."

Hirtenwort von Bischof Reinelt vom 16. Oktober 1989

Bischof Joachim Reinelt bei der Dankwallfahrt in Rosenthal aus Anlass der friedlichen Revolution im November 1989.

Bischof Joachim Reinelt (links), Altbischof Gerhard Schaffran und Weihbischof Georg Weinhold im November 1989 in Rosenthal bei der Dankwallfahrt aus Anlass der friedlichen Revolution.



Liebe Christen im Bistum Dresden-Meißen!

In den letzten Tagen ist eine Situation entstanden, die mich heute noch einmal zu den bedrängenden Fragen das Wort ergreifen läßt.
Ihr habt mir Eure Sorgen und Nöte in zahlreichen Briefen mitgeteilt. Ihr habt mir Eure Ängste und Fragen in vielen Gesprächen anvertraut. Noch nie habe ich die Mitsorge unserer Priester mit Euren Problemen so greifbar erfahren wie in diesen Tagen.

Ich habe auch noch nie eine solche Solidarität der Menschen über Konfessions- und Weltanschauungsgrenzen hinaus erlebt. Die beeindruckenden öffentlichen Kundgebungen des Willens von mindestens 200 000 Menschen in Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Plauen haben überzeugend gewirkt. Die Regierenden haben zwar sehr zurückhaltend, aber doch Gesprächsbereitschaft signalisiert.
Das Volk hofft nun auf einen wahren Dialog und wirkliche Veränderungen. Aber bis jetzt ist kaum etwas anders geworden.
Das Buch Kohelet sagt: "Es gibt eine Zeit zum Schweigen und es gibt eine Zeit zum Reden" (Koh 3,7).

Jetzt ist die Zeit zum Reden.
Zögern und Zaudern sind jetzt falsch.
Die Wahrheit muß an den Tag.
Die ganze Wahrheit.
Wahrheit zerstört nie.
Wahrheit baut immer auf.
Also sprechen wir sie aus.
Gespräch kann nur bedeuten:
beide Seiten sind gleichberechtigt.
Das Volk kommt nicht als Bittsteller. Es will sein Recht. Mit beachtlicher Disziplin und überzeugender Gemeinsamkeit verlangen die Menschen, was recht ist.  

1. WAS gilt es anzusprechen

Auch für uns Christen ist jetzt die Zeit zu sagen:
- Wir erwarten eine Öffnung der Grenzen in allen Richtungen.
Es ist auf Dauer unerträglich, in einem fast allseits verriegelten Land zu bleiben. Viele wären nicht in Panik weggelaufen, wenn mehr Reisefreiheit bestanden hätte.
- Wir erwarten von den Behörden, dass jede Form von Geringschätzung verschwindet. Die Würde eines Menschen verlangt, daß er geachtet wird, auch wenn er nicht in jeder Hinsicht Konformität signalisiert.
Besucher des Landes sollten bereits an der Grenze erkennen können, daß sie bei uns herzlich willkommen sind.
- Wir erwarten einen angemessenen Spielraum für gesellschaftliche Pluralität. Von oben diktierte Denkrichtungen werden immer auf Widerstand stoßen. Jeder soll in diesem Land das Recht haben, für seine Auffassung zu werben, solange sie sich nicht gegen den Menschen wendet.
Wahlen müssen Wahlen werden.
- Wir erwarten eine ehrliche Korrektur der Fehler von Verantwortlichen. Kein Mensch, kein Staat und keine Partei machen alles richtig. Schuld auf andere abzuschieben, ist keine Lösung.
- Wir erwarten eine wahrheitsgetreue Information in Presse und Funk. Die unerträgliche Schönfärberei untergräbt das Vertrauen. Die Schwarzweißmalerei belügt sich selbst.
- Wir erwarten die umfassendere Anerkennung des Elternrechts.
Viele Eltern sind nicht einverstanden mit manchen Erziehungszielen und -inhalten. Es kann nicht hingenommen werden, daß die Schule gegen die Auffassung der Eltern die Kinder erzieht. Wir haben das Recht auf kirchliche Kindergärten, wenn die Eltern dies fordern.
- Wir erwarten, daß die FDJ aus ihrem Statut alles streicht, was die Jugend weltanschaulich festlegt. Entweder bietet diese Organisation wirklich Platz für alle oder man braucht alternative Möglichkeiten.
- Wir erwarten absolute Gewaltfreiheit gegenüber friedlichen Demonstranten. Wer gegen dieses Prinzip der Menschlichkeit verstößt, soll zur Verantwortung gezogen werden.
- Wir erwarten effektivere Wirtschaftsstrukturen. Die Bereitschaft zu guter Arbeit darf nicht durch manche unfähige Leiter gebremst werden. Die meisten Christen sind Qualitätsarbeiter, solange das Mühen nicht umsonst ist. Aber viele fragen sich mit Recht: wozu die Kräfte sinnlos verbrauchen?

Schwestern und Brüder. Die eben genannten Erwartungen sind brennende Anliegen. Die Menschen aller Altersstufen drängen hier auf Taten und haben die Vertröstungen satt. Aber gerade deshalb muß immer wieder angemahnt werden. Deshalb ist es Zeit zu sprechen.
Es werden noch weitere wesentliche Fragen auf der Grundlage des Glaubens zu stellen sein. Aber beginnen wir mit Anliegen unseres Alltags.

2. WER soll sprechen?

Wer ist kompetent, in diesen Fragen mitzureden?
Zunächst heißt die Antwort ganz einfach: Alle.
Eine besondere Berufung zu diesem Dienst hat nach unserem Kirchenverständnis der Laie in der Kirche. Er hat einen spezifischen Weltauftrag. "Laien können nicht darauf verzichten, sich in die Politik einzuschalten. In vielfältigen Initiativen sollen sie das Gemeinwohl fördern. Im Bereich der Wirtschaft, des Sozialen, der Gesetzgebung, der Verwaltung, der Kultur ist jeder gefordert, nach seinen Fähigkeiten und Gewissenserkenntnissen dem Wohl aller zu dienen" (Christifideles laici Nr. 42).
"Pflicht des Bischofs und der Priester ist es jedoch, die moralischen Grundsätze der Gesellschaftsordnung zu verkünden und die Rechte der Menschen zu verteidigen" (Christifideles laici Nr. 60). So werden wir Bischöfe die entwürdigende Behandlung friedliebender Demonstranten und völlig Unbeteiligter nicht einfach hinnehmen. Wir werden mit den Verantwortlichen sprechen und Klärung der Angelegenheiten fordern. Ich bitte, entsprechende Vergehen bei mir zu melden. Ich werde weiter wie bisher für die Rechte der Menschen eintreten mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.
Es ist für uns jedoch ein unübersehbares Faktum, daß die vielen Verhandlungen der Bischöfe und Priester in den Jahren zuvor und in den letzten Wochen weniger gebracht haben, als die einmütige Willenskundgabe Zehntausender auf der Straße. Daß Christen bei den Demonstrationen besonders für den friedlichen Verlauf eingetreten sind, macht uns alle dankbar. Jeder hat also in je eigener Befähigung seinen Auftrag zu erfüllen. 

3. WO sollen wir sprechen?

Um zur Meinungsbildung und zum Dialog fähig zu machen, soll in Gemeinden und Gruppen das Gespräch eingeübt werden. Wir sind alle noch sehr unerfahren. Wir werden die Soziallehre der Kirche gründlich studieren müssen. Wir werden die Texte der Ökumenischen Versammlung erörtern. Aber unser Gewissen und gesunder Menschenverstand befähigen schon jetzt, Stellung zu nehmen.
Die Zeit ist reif. Wo immer wir sind, ist mit Zivilcourage sofort das Wort zu ergreifen. In Schulen, Betrieben, bei Bekannten und in Versammlungen sollten wir unbefangen sagen, was nicht mehr verschwiegen werden kann.
Dieses Land könnte für viele wieder anziehend werden. Wir haben interessante Städte, einladende Landschaften und viele, viele gute Menschen. Wir fragen uns, warum gehen die jungen Menschen weg? Sie gehen weg, weil im 20. Jahrhundert die Entmündigung kein selbstbewußter Mensch mehr hinnehmen kann. Gerade junge Menschen beanspruchen für sich das Recht, sich in die Fragen der Politik ohne Angst einmischen zu können. Sie wollen sich zu allen Fragen des Lebens frei äußern. Das ist ihr gutes Recht. Wo immer wir können, sollen wir für diese offene und freie Meinungsäußerung eintreten. Wir werden dies zusammen mit unseren evangelischen Brüdern und Schwestern tun. 

4. WIE sollen wir sprechen?

Auf das Wie kommt es beim Gespräch besonders an. Es wird sehr schwer fallen, mit jemandem zu sprechen, der die gewohnten Parolen nur wiederholt. Ich weiß, Ihr erwartet einen neuen Stil und radikale Reformen. Wir werden nicht zimperlich an die Arbeit gehen.
Aber bei allem Eifer und auch in harten Debatten müssen wir Christen doch daran denken, daß es für uns keine Feinde gibt. Wer meint, eine solche Sicht schwäche seine Position, der irrt. Für uns gilt: "Die Schwäche Gottes ist stärker als die Menschen" (1 Kor 1,25). Unsere Argumente entnehmen wir dem Evangelium. Das Evangelium aber ist sehr radikal.
Wir werden darum nicht zufrieden sein mit einem Anstrich der Fassade. Der Dialog muß den Dingen auf den Grund gehen, sonst bringt er nichts. Jetzt genügen uns eben nicht Bananen, sondern die Karten müssen auf den Tisch. Die Menschen wollen Einblick haben, damit sie die Dinge beim Namen nennen können. Das wird auf jeder Seite Geduld und Ausdauer voraussetzen. Schließlich wollen wir nicht nur Reden. Wir wollen Veränderungen. Wir brauchen sie.
Gesucht sind jetzt besonders jene Menschen, die mit großer Sachkenntnis und menschlicher Umgangsweise beharrlich das Gute in Gang bringen, fördern und schließlich zum Ziel führen.
Die menschliche Größe erwarten wir Christen besonders aus einem anderen Dialog, dem Dialog mit Gott.

5. Mit Gott sprechen

Trotz aller Hektik der Ereignisse der letzten Tage haben viele von uns in ihrer Not das Gespräch mit Gott gesucht. Häufig wurde sogar aus dem Volk heraus nach Bittgottesdiensten verlangt. Jugend traf sich spontan zum Gebet in Gemeinschaft. Kranke und Einsame griffen nach dem Rosenkranz. Das sind Kennzeichen des Glaubens, die selbst Ungetaufte tief beeindruckt und immer wieder in die Kirchen gezogen haben.
Dieses Zeugnis der Christen erfüllt uns mit Freude. Ein großer Segen wird diesem Land aus unseren Gebeten erwachsen.
Wer von uns dialogfähig sein will, spricht zunächst mit Gott, dann mit den Menschen. Oder noch besser: Man bleibt im Dialog mit Gott, wenn man mit den Menschen spricht. Dann werden die Großtaten Gottes geschehen. So können wir Kirche nach außen sein.
Wir wollen in diesen belastenden Tagen fest in Christus zusammenstehen. Wir werden einander helfen. Wir vertrauen Gott, der unsere Sorgen kennt.
Er segne dieses Land und alle Menschen guten Willens: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Dresden, am Fest der heiligen Hedwig 1989

+ Joachim Reinelt
Bischof von Dresden-Meißen


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