Mentalitätswechsel in Russland

Eberhard Prause im Interview mit Bischof Clemens Pickel


Bischof Clemens Pickel
Im Wort am Sonntag vom 11. Januar auf MDR 1 Radio Sachsen sprach der Rundfunkbeauftragte des Bistums, Monsignore Eberhard Prause, mit Bischof Clemens Pickel, Saratow, über die Situation der katholischen Kirche in Russland.




























Herr Bischof Pickel, Sie sind wieder einmal in Deutschland. Wie viel Jahre sind Sie in Russland?

Seit 18 Jahren.

Wenn Sie zurückblicken auf diese doch sehr lange Zeit schon, was fällt Ihnen am meisten auf im Unterschied zu damals, als Sie nach Russland kamen, an Russland, und vielleicht auch wenn Sie heute wieder hier sind an Deutschland?

Es hat sich sehr, sehr viel geändert in der Zeit. Ich bin in eine Situation gekommen kurz nach bzw. in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Es gab sowjetische Verhältnisse. Nicht nur die Briefmarken haben 5 Kopeken gekostet, sondern auch die Mentalität der Leute war sehr verschlossen und still und traurig. Die Arbeitsplätze waren gesichert, in den Geschäften gab es zumindest Brot. Die anderen Sachen fingen an Defizit zu werden. Lebensmittelmarken kamen noch mal auf den Markt. Humanitäre Hilfe aus Deutschland kam. Lebensmittel, weil es tatsächlich nicht gereicht hat, was wir dort besorgen konnten.

Inzwischen hat sich in Russland, würde ich so zusammenfassen, ein Mentalitätswechsel vollzogen. Durch die Öffnung der Grenze, besonders auch durch die Öffnung der Rundfunk- und Fernsehanstalten, ist eine westliche Mentalität übergeschwappt, d.h. nicht nur die Schnelllebigkeit, sondern auch die Oberflächlichkeit ist an die Stelle des Kommunismus getreten.

Wenn Sie den Unterschied hier in Deutschland sehen?

Ich muss sehr vorsichtig sein mit Beurteilungen, weil ich wirklich nur selten in Deutschland bin und wenn, dann habe ich kaum Zeit, mir großartig etwas anzusehen. Ich, als katholischer Priester, sehe, dass sich in den Kirchen der ehemaligen DDR vieles geändert hat. Das heißt, dass was wir damals als unsere Besonderheit angesehen haben, dass Leute nach dem Gottesdienst noch eine Stunde vor der Kirche standen und miteinander erzählten, das gibt es scheinbar nicht mehr. Das heißt, hier hat der Osten nicht nur die Gesetze des Westens übernommen, die auf dem Papier stehen, sondern auch die alltäglichen Gesetze der Anonymität und Geschwindigkeit.

Nun sind wir hier im Funkhaus in einer ehemaligen sowjetischen Kaserne, zumindest wurde sie auch als das genutzt nach ihren Vorgängern über hundert Jahre. Was mögen die Soldaten heute machen, die hier damals weggegangen sind, und die wir, eigentlich ja mit Freude haben gehen sehen, aber auch mit Sorge begleitet haben, was aus ihnen dort werden wird.

Ich gehe davon aus, dass die meisten von denen, die hier Soldaten waren, inzwischen im Ruhestand sind. In Russland gehen Armeeangehörige sehr schnell in Rente.

Nun sind Sie ja inzwischen in diesen 18 Jahren Bischof geworden vor 10 Jahren und wie ist da der Unterschied jetzt diözesan in den Strukturen, die Sie jetzt aufgebaut haben? Ist es eine Kirche, die auf sicheren Beinen steht oder ist es von Flüchtigkeit geprägt?

Es gibt tatsächlich inzwischen vier Bistümer in Russland, aber die Struktur der Bistümer ist minimal. Es hängt nicht nur damit zusammen, dass wir fast vollständig von Spenden abhängen, sondern auch damit, dass die katholische Kirche in Russland sehr klein ist. Wir sind 0,08 Prozent der Bevölkerung und die Pfarrgemeinden liegen manchmal bis zu 500 km auseinander. Die Struktur, die existiert, ist eine Hilfe. Das heißt, ich habe Verbindung in die verschiedensten Pfarreien, eben überall hin, wo jemand zum Bistum gehört. Ich kann Hilfe, Ratschläge, Impulse weitergeben bzw. kann die gesammelte geballte Not dieser Gegend Südrusslands auch von Zeit zu Zeit hier im Westen weitersagen und das ist sehr wichtig für uns.

Und Sie sind ja auch, wenn ich das richtig weiß, personell abhängig. D.h., die Priester, die dort mit Ihnen wirken, sind ja zum großen Teil keine geborenen Russen.

48 Priester gibt es zur Zeit im Bistum auf einer Fläche, die vier Mal so groß ist wie Deutschland und von diesen 48 sind nur vier Russen, d.h. 44 Ausländer aus den verschiedensten Ländern. Das fängt an mit Argentinien über Polen, Slowakei, Irrland, Frankreich, Holland, Deutschland, Österreich bis hin zu den Philippinen.

Das heißt nicht, dass alle russisch sprechen können, aber von ihrer persönlichen Mentalität der religiösen Prägung bringen sie doch ihre Heimatkirche mit.

Jeder bringt sein Kirchenbild mit, das ist manchmal gar nicht so einfach. Das, was uns zusammenfügt, das ist die Freiwilligkeit. Also Niemand wurde von Fern geschickt oder musste nach Russland gehen, sondern alle sind gekommen, um zu helfen, nach diesen drei Generationen ohne Kirchen.

Wie habe ich mir das vorzustellen? Klopfen sie bei Ihnen an die Tür und sagen: Lieber Bischof, bitte ich möchte zu dir kommen, gib mir eine Pfarrei?

Das geht gewöhnlich über persönliche Kontakte, also einer kennt noch einen und so weiter. Eine Kettenreaktion, aber nicht eine Dominoreaktion. Also es sind immer noch zu wenig.

Bleiben die Priester länger?

Wenn jemand 10 Jahre bleibt, dann ist das sehr viel. Es gibt manche, die bleiben nur zwei Jahre, drei Jahre, fünf Jahre. Und das hängt damit zusammen, dass die materielle Basis der Gemeinden sehr schwach ist. Praktisch sind wir angestellt zu betteln. Wir müssen immer wieder bitten, damit wir im nächsten Winter die Heizung der kleinen Kapelle, die die Gemeinde hat, bezahlen können. Das, was wir selber an Kollekten sammeln in Russland, reicht nicht aus.

Wie halten Sie Ihre Diözese personell zusammen? Kommen die dann alle mal zusammen zu Ihnen nach Saratow oder fahren Sie mehr rum?

Das wichtigste Band ist das Internet. Jede Pfarrei hat ihren Anschluss und das ist sehr wichtig. Das Zweite ist, dass ich tatsächlich viel unterwegs bin. Ich bin mehr unterwegs als zu Hause.

Wir haben 6 Dekanate und ich hab die Priester und die Ordensleute gebeten, dass sie sich mindestens vier Mal im Jahr, d.h. aller drei Monate treffen, zwei Tagen, um sich auszutauschen und sich gegenseitig zu stützen. Einmal im Jahr nehme ich alle zusammen. Wir sind mit den Ordensleuten zusammen 100 Geistliche im Bistum.

Haben Sie dann den Eindruck, dass es ein fröhlicher Haufen ist?

Ja. Fröhlich im zutiefst christlichen Sinne.

Also keine Leute, die sich die Wunden lecken, die jammern und die von Nord bis Süd die klimatische Situation beklagen?

Die meisten sind relativ jung, d.h. für sie ist das Klima sogar sehr interessant. Manche jammern zu spät, denke ich. Es gibt Not, die manche versuchen, lange allein auszuhalten. Deswegen gebe ich mir Mühe, dass Seelsorger zu zweit arbeiten, dass keiner allein irgendwo bleibt. Aber es kommt vor, das manche große Schwierigkeiten auszuhalten haben mit Vorwürfen von korrupten Leuten in irgendwelchen Verwaltungsstrukturen oder mit Visaverlängerung. Es gibt viele Probleme, die einen nach Monaten nach Hause transportieren könnten. Aber ich freue mich, dass viele doch lange aushalten.

Das heißt, dass das alte urchristliche Prinzip - bini ac bini - immer zu zweit - bei Ihnen auch greift und auch ein Signal gegen die Vereinsamung ist?

Ich denke ja, und als Bischof bin ich dafür verantwortlich. Es muss so sein.

Wie ist das Verhältnis der Gemeinden zu ihren Priestern, die kommen ja nun von irgendwo her, da kann man ja auch nicht sagen, man kann jeden auf jede Gemeinde aufpfropfen?

Die Gemeinden sind anspruchsvoller geworden. Wenn das vor 20 Jahren noch möglich war, als Priester zu kommen, ohne ein Wort der Menschen in Russisch zu sprechen, dann waren die Leute trotzdem zufrieden. Hauptsache es war eine Messe, Hauptsache die Kommunion war gültig oder man konnte zur Beichte gehen. Aber heute achten die Leute auf anspruchsvolle Predigten, natürlich auf väterliche Priester. In Russland sagt niemand „Herr Pfarrer“, das ist eine deutsche Eigenart. In Russland spricht man die Seelsorger an mit dem Vornamen und Pater, bzw. Pater russisch wäre Otez. Otez Wassili, Otez Pawel usw. Und das ist nicht nur ein Titel. Väter werden wirklich gesucht. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass viele Familien, vielmehr als hier, kaputt sind. Wir haben ganze Gemeinden, wo nur Frauen mit Kindern zur Kirche kommen, aber kein einziger Mann, weil die Männer fort sind oder ständig betrunken. Es gibt also ganze Generationen, die ohne Väter groß geworden sind, aber Sehnsucht danach haben. D.h., wenn die Priester nicht väterlich sind, dann haben sie wenig Chancen, bei den Leuten im guten Sinne des Wortes anzukommen.

Nun ist ja aus der Sicht hier in deutscher Beurteilung von Russland besonders auch in den letzten Wochen durch den Tod von Alexej II. die Sicht, dass man dort orthodox ist. Das ist jetzt nicht gemeint als eine Frage im Sinne von wie kommt man miteinander aus, sondern wie sind auch die Menschen geprägt im katholischen Bereich oder evangelisch. Ich selbst habe andere Konfessionen erlebt in Nowosibirsk, die mit einem ganz großen Selbstbewusstsein gelebt haben, aber auch immer mit einer großen Ehrfurcht gegenüber der orthodoxen Kirche.

Russland ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt über 100 Nationalitäten in dem Land und schon seit Jahrhunderten hat jeder der anderen Nationalität ihre Religion zugestanden. Die Russen sind seit 1000 Jahren orthodox, geschichtlich gesehen. Dazwischen lagen jetzt 70 Jahre Sowjetunion, das heißt, 70 Jahre diktatorischer Atheismus, also Diktat. Es gibt keinen Gott. Und heute zu sagen, was früher war geht einfach weiter, wäre nicht ganz realistisch. Tatsächlich denke ich, müssen heute alle Kirchen in Russland davon ausgehen, dass diese 70 Jahre Sowjetunion ihre Spuren hinterlassen hat. Es gibt viel Unglauben, unabhängig davon, dass jemand getauft ist oder nicht. Es gibt in Russland, außer den christlichen Kirchen, auch den Islam. Bei uns im Bistum sehr stark bis zu 20 oder im Süden vom Kaukasus bis zu 95 % der Einwohner sind Moslems.

Aber noch mal zurück zu Kirchen. Die katholische Kirche wie auch die evangelische Kirche haben natürlich ihre Wurzeln in der Zuwanderung. D.h. zu Zeiten Peters I. oder Katharina II. kamen Deutsche ins Land. Manche brachten ihren katholischen oder evangelischen Glauben mit und haben ihn bewahrt, selbst über diese Jahrzehnte ohne Priester. Wenn auch heute in unseren Kirchen trotzdem russisch gesprochen wird, dann heißt das nicht, dass das alles Russen sind, die zur Kirche kommen. Sondern die Leute, die heute in Russland leben, die haben die Feinheiten und die Besonderheiten ihrer eigenen Nationalkultur nicht mehr bewahren können. Das wurde kaputtgemacht. Deutsch war Faschist, wer deutsch gesprochen hat war in Gefahr, verprügelt zu werden über Jahrzehnte hinweg.

Also hat sich praktisch eine russischsprechende Mentalität, entwickelt, die praktisch auch heute noch das Kirchenbild prägt und es ist schwer zu sagen, das ist ein Russe, das ist ein Deutscher, das ist ein Kasache usw. Es ist vermischt.

Sie sind also jetzt Bischof von der Diözese Saratow als Deutscher und Sie werden auch auf Zukunft hin weiter in Ihrer Diözese bleiben?

Sicher, als Bischof ist man angenagelt. Damals bin ich freiwillig gegangen nach Russland und hab mir auch immer gewünscht, da bleiben zu können. An dem Tag, als ich erfahren habe, dass ich zum Bischof ernannt werden soll, habe ich versucht, mich rauszureden, aber mich auch ein bisschen still gefreut, das praktisch dadurch die Sache erledigt ist. Also mich holt da so schnell niemand mehr weg. In Richtung Zukunft hoffe ich natürlich, dass wir irgendwann genug Geistliche haben, die ihre Gemeinden betreuen können. Aber ich denke, zumindest solange ich lebe, werden wir angewiesen sein auf die personelle und die andere Hilfe vom Ausland.

Vielen Dank, Herr Bischof Pickel, und wir wünschen Ihnen Gottes Segen in Ihrer Arbeit. Und durch das, was Sie dort erleben, merken wir vielleicht auch, dass manchmal unsere Probleme sehr viel kleinerer sind und auf der anderen Seite uns eins verbindet, nämlich die Folgen des Kommunismus, dass wir damit leben müssen und dagegen anleben müssen. Gottes Segen für Sie bei der Heimfahrt.

Dankeschön.

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