Neujahrsgrüße aus Russland

Bischof Clemens Pickel schreibt aus Saratow nach Deutschland


Bischof Pickel schreibt aus Saratow: "Für das Jahresende hatte ich mir den Besuch einer Gemeinde ganz im Süden aufgehoben. Im Winter kann man sich im Süden problemlos fortbewegen, so hatte ich gedacht. Weit gefehlt!"

Marx, 30. Dezember 08

Liebe Freunde in Deutschland und Umgebung!

Zum letzten mal im „alten Jahr“ setze ich mich an den Computer und schreibe diesen Brief. Es geht um einen Besuch am Schwarzen Meer, von dem ich gestern heimkehrte. Nun kann ich sagen, dass die sogenannten Visitationen der Pfarreien abgeschlossen sind, für die ich zwei volle Jahre gebraucht hatte, bevor ich bald, Ende Januar, mit den anderen katholischen Bischöfen aus Russland zum „Ad Limina Besuch“ nach Rom fliege, um Rechenschaft über unseren Dienst zu geben.

Für das Jahresende hatte ich mir eine Gemeinde ganz im Süden, direkt am Schwarzen Meer, aufgehoben: Anapa und die von da aus betreute Hafenstadt Noworossijsk. Im Winter, wenn bei uns schon alle Straßen überfroren oder gar zugeweht sind, kann man sich im Süden problemlos fortbewegen, so hatte ich gedacht. Weit gefehlt! Eine Flugverbindung gab es nur bis Krasnodar. Die letzten 150 km sollte mich Pater Jacek, der Pfarrer, mit dem Auto holen. Sein Kaplan ist zurzeit im Ausland, denn das russische Ausländergesetz macht es keinem unserer Geistlichen dort im Süden des Bistums möglich, ständig vor Ort zu sein. Immer noch müssen viele nach drei Monaten Seelsorge in Russland für volle drei Monate ausreisen. Das nimmt Mut und Freude, sehe ich bei Einzelnen immer deutlicher. Eine Entfremdung geht vonstatten, die Priestern wie Gemeinden gleichermaßen schadet.

Pater Jacek erwartete mich pünktlich am Flughafen. Sein Auto machte von außen einen sehr winterlichen Eindruck, obwohl der Parkplatz trocken und schneefrei war. „Ein paar Kilometer vor der Stadt gehe es los“, lächelte er. Ich, der ich nicht gern als Beifahrer im Auto sitze, prüfte sofort die Reifen und fand nichteinmal das beruhigende „M S“ (Matsch und Schnee), während wir in Saratow doch alle schon längst mit Winterreifen und Spikes unterwegs sind. Aber schließlich war er gekommen, also wird es auch einen Weg zurück geben, überzeugte ich mich selbst.

Unterwegs wurden die Straßen immer glatter, ein Auto vor uns geriet von der Fahrbahn ab, LKWs standen, bzw. lagen umgekippt am Straßenrand. Auch wir selber kamen ins Schleudern. Als der Pfarrer mir vorschlug, unterwegs auf einer Außenstation einzukehren, die ich selbst noch nicht kannte, willigte ich gern ein. Und als wir etwa 1 km vor dem Teilziel in der Stadt Krymsk im Schnee stecken blieben, rief Pater Jacek nach Anapa an, wo schon ein Helfer in Bereitschaft saß, um uns mit einem weit besseren Auto abzuholen.

Wir feierten inzwischen hl. Messe im Haus einer assyrischen Familie. Etwa 15 Personen waren gekommen: gute, einfache, arme Leute. Im Anschluß aßen wir alle an einem großen Tisch in der Küche. Der hundertjährige Küchenschrank sei aus Helenendorf in Azerbaidzhan am Kaspischen Meer. Dort hätten jene Assyrer früher in der Nachbarschaft vieler Deutscher gelebt. Jeder hatte etwas zum Essen mitgebracht. Im Haus herrschte urkirchliche Atmoshäre. – Gut, dass wir hier Halt gemacht hatten, nicht nur des Wetters wegen! Unser Fahrer, der uns dann holte, hatte keine Probleme mit seinem Geländewagen, dennoch fuhr er Umwege, weil ein Pass wegen querstehender LKWs gesprerrt war.

Angekommen in Anapa, erinnerten mich der Ort in vielen Einzelheiten an den ehemaligen Pfarrer Jozef Valabek, der hier nach zwei Tagen im Koma am 16. August 2005 im Alter von 51 Jahren verstorben war, als ich gerade mit einer großen Jugendgruppe aus Russland am Weltjugendtag in Köln teilnahm. Ich war damals von Köln nach Anapa geflogen, um bei den Formalitäten für die Überführung des Leichnams in seine slowakische Heimat zu helfen und eine Requiem mit der Gemeinde zu feiern. Ich erinnere mich, wie ich bei 40�C im Schatten am offenen Sarg jenes guten Priesters und Freundes stand, bevor ich zur kühlen Vigilnacht und zur Sonntagsmesse mit dem Papst nach Köln zu meinen Jugendlichen zurückkehrte.

Anapa sollte nicht nur die letzte Station meiner Visitationsreisen werden, sondern auch der Ort, an dem ich unser russlandweites „Jahr der Familie“ mit einem Teil der Gläubigen unseres Bistums feierlich abschließe. Das liturgische Datum – Fest der hl. Familie – paßte gut. Leider konnten nicht alle zur Messe kommen, die gern wollten. Glatteis und ausgefallene Busse hinderten sie daran. Dennoch war es ein Gottesdienst mit verschieden Höhepunkten im Leben der Schwarzmeer-Gemeinde. Vier Erwachsene hatten sich auf die Firmung vorbereitet. Und sechs oder sieben Paare erneuerten ihre Eheversprechen an diesem Fest der Heiligen Familie. Anschließend gratulierten mir die Kinder mit Weihnachtsliedern. Natürlich wurde auch ein „Foto mit allen“ gemacht. Das vorzügliche Mittagessen bereiteten zwei ältere Damen vor. Dann brachen wir auf nach Noworossijsk.

Wegen der Kämpfe im 2. Weltkrieg trägt Noworossijsk den Beinamen „Heldenstadt“. Hier hat Russland seinen größten Hafen. Es gab früher zwei katholische Kirchen in dieser Stadt mit ihrem bunten Völkergemisch, eine von beiden wurde nach ihrer Fertigstellung, noch vor der Kirchweihe durch den Bischof, enteignet, die andere zerstört. Der Pfarrer zählte nach und war sich sicher, dass mein Besuch der erste Besuch eines katholischen Bischofs in Noworossijsk seit mindestens 80 Jahren sei. Der Kontakt zu katholischen Christen hierher kam erst vor einigen Jahren zustande. Da hatte sich nämlich eine Gruppe tschechischer Nationalität an ihre Botschaft in Moskau gewandt und um einen Sprachlehrer und einen Priester gebeten. Der Botschafter brachte mir den Brief persönlich nach Saratow. Kurz darauf nahm der damals slowakische Pfarrer von Anapa den Kontakt zu der Gruppe auf.

Die Messe feierten wir hier in einer Diskothek mit Fotos der Prager Altstadt an den Wänden. Unter den 20 Gottesdienstteilnehmern war eine ältere Frau, der man ansah, dass sie beten konnte. Die anderen bemühten sich oder schauten zu. Der „Organist“ kam zu spät und begann auf seinem Keyboard zu üben, während eine junge Frau anstelle des Antwortpsalms nach der Lesung, die Einleitung zu den Fürbitten las. Ein Mann, der mit Familie in der ersten Reihe saß, klatschte nach der Predigt. Während des gemeinsamen Abendbrots nach der Messe fühlten sich manche spürbar freier, andere schwiegen. Wie schwer haben es doch manche von unseren Geistlichen, dachte ich. Die Leute sind gut, aber man braucht sehr viel Kraft und Geduld mit ihnen. Kommt doch überall auch noch ein übergroßer Aufwand für die alltägliche Bürokratie hinzu. Eben darum versuche ich, keinen allein arbeiten zu lassen. P. Jacek aber ist einer von denen, die nun drei Monate allein „durchkommen müssen“, bevor sein Kaplan (s.o.) ihn für drei Monate ablöst. Ordensschwestern gibt es in dieser Gegend keine.

Als wir nach Krasnodar aufbrachen, war es längst dunkel. Einer der am Morgen Gefirmten brachte P. Jacek und mich nach dorthin. Auf dem Rückweg wollten sie dann nachts sein steckegebliebenes Auto mitnehmen. Die Passstraße war wieder offen. Am hinderlichsten fielen mir Verkehrskontrollen auf. Jeder Sattelzug wurde an der steilen, winterlichen Auffahrt angehalten. Dass man da ohne Bezahlen nicht wieder loskommt, wissen scheinbar alle.

In Krasnodar traf ich noch zwei unserer Geistlichen. Es war gut, mache Dinge persönlich zu besprechen. Trotz moderner Telefon- und Internetverbindungen ist die Begegnung unersetzbar. Gestern, früh am Morgen, feierte ich eine Weihnachtsmesse im Kloster der Eucharistieschwestern, die ich ja fast alle aus ihrer Zeit in Marx gut kenne. Auf dem Rückflug über Moskau begann ich, Schlüsse aus den Reisen der letzten zwei Jahre zu ziehen. Seelsorge in Russland ist schwerer geworden, als sie es vor 15 Jahren war. Damals fühlten sich viele von der sowjetischen Ideologie betrogen und gingen auf die Suche nach Sinn...

Es gab noch viele Kleinigkeiten, die mir unterwegs auffielen: Eine Wandzeitung am Eingang zur Kirche in Anapa, auf der man etwas vom Partnerdekanat Plauen erfahren kann; ein nicht zu Ende gebautes Pfarrhaus, weil das Geld nicht reichte; Kirchengesang, der von einer Geige begleitet wird, weil niemand auf der kleinen E-Orgel spielen kann; fröhliche Kinder, leerer werdende Flughäfen, ein Sonnenuntergang über den Wolken usw. usf.

Am späten Nachmittag holte mich unser Pfarrer in Saratow vom Flughafen ab. Er ist gleichzeitig mein Generalvikar. Im Büro schaute ich nur kurz nach dem Rechten, dann fuhr ich nach Marx, wo Pater Tomasz am Abend seinen Namenstag feierte (Tomas Becket). Inzwischen hat auch hier der Winter Einkehr gehalten. Zu den niedrigen Temperaturen endlich auch Schnee dazu. Jedoch kommt man noch ganz gut vorwärts auf den Straßen. Ich blieb über Nacht, weil die Schwestern im Kloster in Marx um einen Einkehrtag gebeten hatten, den ich ihnen heute halte. Ich freue mich auf die kommenden zwei freien Tage, erinnere mich aber blaß, dass in Saratow auf dem Küchentisch schon die nächsten Flugscheine liegen: Am Dreikönigstag werde ich die neue Kapelle in Prochladny im Kaukasus weihen. Vorher besuche ich einen Schwesternkonvent in einem Dorf jener Region.

Zum Jahreswechsel möchte ich nun noch einmal aufrichtig und von ganzem Herzen allen danken, die uns 2008 gestützt und untersützt haben. Danke für Ihr Gebet, für die Besuche, für die Briefe, für die Spenden, für Ihr Interesse und für die Freundschaft, die in unserem Glauben gründet!

Der Herr segne Sie und Ihre Lieben und lasse das neue Jahr – trotz aller vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren Krisen – zu einem Jahr tiefen Friedens in – und großer Freude an Gott werden!

Ihr
Bischof Clemens Pickel

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