Saratow, den 30. Juni 2009
Meine lieben Freunde!
Gestern Abend kam Schwe-
ster Nata-scha mit ver-weinten Augen ins Jugend-haus neben der Kirche
in Marx, wohin ich vor den großen Ferien zur Abschlussfeier eingeladen
war. „Indira ist gestorben. Pater Tomasz ist gerade vom Krankenhaus
nach Hause gekommen�, sagte sie. Indira war ein elfjähriges
kasachisches Mädchen aus einem der ganz armen Dörfer im Kreis Marx.
Jetzt im Sommer gehen die Kinder dort alle Tage im Bewässerungskanal
baden. Auf dem Heimweg ist sie am Straßenrand unter die Mähmaschine
eines betrunkenen Traktoristen gekommen. Die schweren Spitzen hatten
ihre Lunge und ihr Herz verletzt. Mutter und Priester konnten im
Krankenhaus nicht zu ihr und mussten im Gang warten. Pater Tomasz, der
schon viele Jahre bei uns ist, erzählte mir mit betroffener Stimme, wie
ein Arzt beim Herauskommen, beinahe im Vorbeigehen sagte: „Sie ist
gestorben.�
Indira war vor vierzehn Tagen zum ersten Mal bei der
Kinderwoche der Pfarrei dabei, die Jüngste in der „großen Gruppe�. Das
heißt, sie kam noch nicht so lange zur Kirche, war nicht getauft� Umso
mehr bewegte mich, dass die Mutter sofort unseren Pfarrer angerufen
hatte, und mit Pater Tomasz im Gang, nur eine Tür von ihrer sterbenden
Tochter entfernt, zum Himmel flehte.
Wie viele Jahre wird der betrunkene Traktorfahrer aus dem
Dorf, „wo doch so viele trinken�, bekommen? Das war nicht die
wichtigste Frage, die mir beim Abendgebet kam. Der Moment, wie die
Mutter vom Tod ihrer Tochter erfuhr, lag mir sehr auf dem Herzen, denn
es war bei weitem nicht das erste Beispiel jenes groben Defizits an
Menschlichkeit, das den bitteren Geschmack diktatorisch geborener
Lieblosigkeit wieder schmecken lies. Einst weinte Jesus über Jerusalem,
das die Zeit der Gnade nicht erkannt, sprich: genutzt, hatte. Gestern
Abend lag ein vager Schatten davon auf Schwester Nataschas Gesicht.
Ähnliche Geschichten haben mich in den vergangenen Monaten
dreimal davon abgehalten, einen Brief über das Leben bei uns zu
schreiben: Eine Alkoholikerin verkauft ihre zwölfjährige Tochter an
Männer. Und das Sozialamt lügt allem Anschein nach, nur um das Kind in
ein staatliches Heim einzuliefern, statt es unserer Obhut
anzuvertrauen. Eine Zweijährige mit einem faustgroßen und schnell
wachsenden Tumor im Kopf, wird vor der 16-stündigen Bahnfahrt in eine
Moskauer Klinik auf den Armen ihrer 19-jährigen, arbeitslosen Mutter
von der heißen Sonne am Bahnsteig bis zur Ohnmacht gekocht, weil die
Schaffnerin nicht einsteigen lässt. In solchem Zusammenhang erscheint
es wie eine Lappalie, wenn einem Franziskaner, der beinahe 10 Jahre
Pfarrer bei mir im Bistum ist, das Aufenthaltsrecht verwehrt wird�
Emotionale Lektüre bewirkt Trugschlüsse. Nicht davon
schreiben, wäre unehrlich. Dennoch will ich es dabei belassen und den
Gedanken abschließend nur noch eine wichtige Bitte anfügen, die Bitte
um Gebet und Unterstützung für jene, die hier anderen Halt zu geben
versuchen, für unsere Priester und Ordensleute. Auf vielen Reisen der
letzten Monate habe ich deren heroischen Einsatz still bewundert. Mögen
die folgenden Absätze in kurzen Strichen ein Bild davon malen.
Es war noch Fastenzeit, als ich mir ein freies Wochenende und
einen Flugschein ins Nachbarbistum leistete. 400 km von unserer
östlichsten Pfarrei entfernt, 1.600 km von Saratow, liegt
Tscheljabinsk, ein Zentrum russischer Schwerindustrie hinter dem Ural.
Dort leben beinahe schon 20 Jahren lang zwei deutsche Seelsorger, die
sich längst in den Ruhestand verabschieden könnten, denen jedoch ihr
Herz keine Ruhe lässt. Pater Wilhelm und Pater Reinhardt haben einen
Seelsorgebezirk aufgebaut, der flächenmäßig auch großen deutschen
Bundesländern nicht nachstehen dürfte. Ordensschwestern und eine Armee
von Laien helfen ihnen bei der Arbeit. Ich kenne die beiden seit vielen
Jahren, muss aber dazu sagen, dass wir uns in all der Zeit höchstens
fünfmal getroffen haben, in der Regel zufällig, am Rande großer
Ereignisse. Es wird ein bisschen Heimweh nach geistlichem Austausch mit
Landsleuten gewesen sein, mit Priestern, deren Muttersprache Deutsch
ist, das mich zur Reise bewog, aber auch Bewunderung und Neugier. Einer
von beiden ist fest entschlossen, in Russland zu bleiben und hofft,
dass ihm der Bischof in Novosibirsk später helfen wird, wenn er sich
nicht mehr allein versorgen kann. Er hat sein gütiges Herz behalten,
obwohl er schon so lange hier lebt�
In den vergangenen zwei Monaten habe ich an jedem Wochenende
mindestens eine Pfarrgemeinde besucht. Krasnodar, Wolgograd, Togliatti,
Syzran, � Stopp! Bei dieser Unbekanntesten unter den genannten Städten
will ich anhalten und berichten. In der Stadt leben 170.000 Einwohner.
Sie ist ein Eisenbahnknotenpunkt an der Wolga und hat große Kasernen,
in denen sogar lateinamerikanische Offiziere in Kampfhubschraubern
ausgebildet werden. Syzran hat vom russischen Wirtschaftsfrühling der
letzten Jahre nichts mitbekommen. Es scheint an vielen Straßenecken,
als ob hier die Geschichte vor 15 Jahren stehen geblieben wäre.
Ein argentinischer und ein peruanischer Seelsorger aus dem
180 km entfernten Uljanowsk betreuen Syzran als Außenstation. Kirchlein
und Gemeinde sind klein. Trotzdem sprüht eine frische Lebendigkeit aus
den Gesichtern von Kindern, Eltern und Alten. Zum Grundstück gehören
zwei weitere Häuschen, in denen manchmal Priester aus dem Nordostzipfel
des Bistums übernachten, wenn sie auf dem Weg zu mir nach Saratow sind.
Nach der Firmung, die ich dort drei Jugendlichen spendete, eilte
niemand nach Hause. Es war „Tag des Herrn�. Wir aßen gemeinsam, sangen,
spielten Fußball, � ein Ehepaar mit drei seiner fünf Mädchen sang mir
ein selbst komponiertes, ansprechend geistliches Lied. Die älteste
Tochter, 16 (?), erklärte ihrem Freund am Tisch mit Klarheit und
Überzeugung, was Beichte ist. Natürlich wurde fotografiert: ein Bild
mit den deutschen Großmüttern, eins mit den polnischen, eins mit allen,
plus Schäferhund, der das Grundstück an den Tagen bewacht, wenn keiner
da ist. Ich frage die Priester gewöhnlich nicht, was sie arbeiten und
wie. Vieles kann man sehen. Wenn unsere kleinen Gemeinden Familien
sind, in denen sich alle zu Hause fühlen, dann ahne ich, dass sie ihre
Seelsorger nicht nur der Form halber „Otjez� (Vater) nennen.
Samara und Rostow gehören zu den Millionenstädten im Bistum
St. Clemens. Meine Besuche dort will ich im Bericht wiederum
überspringen, um noch etwas von Elista zu erzählen. Die kleine
Hauptstadt der buddhistischen Kalmyken birgt ein Holzkirchlein, das dem
hl. Franziskus geweiht ist und eine Pfarrgemeinde von weniger als 20
Katholiken beherbergt. Der Pfarrer, Pater Waldemar, ist Pole. Er ist
sehr klug und künstlerisch begabt. Eines Tages wird ihn sein Orden dort
wegholen und in eine Großstadt versetzen. Hätte er nichts von einem
Einsiedler in seiner gottgegebenen Natur, würde er es hier doch wohl
nicht aushalten. „Die Fahrten auf die Außenstationen retten mich�,
sagte er mir im Auto. Das heißt: Manchmal fällt ihm doch die Decke auf
den Kopf.
Dass ich Elista an einem Freitag besuchte, hing mit der
Eröffnung eines Jugendzentrums zusammen, in dem behinderte Jugendliche
verschiedener Konfessionen und Religionen betreut und gefördert werden.
„Mit 18 sind Invaliden in Russland auf sich allein gestellt�, erklärte
mir Alberta, die katholische Leiterin des Zentrums, die selbst eine
Handvoll Kinder und Jugendliche bei sich zu Hause aufgenommen hat. Auch
der orthodoxe Ortsbischof und ein Lama des großen buddhistischen
Tempels waren zur Eröffnung gekommen. Was Gremien und Kommissionen in
jahrelangen Diskussionen nicht unter einen Hut bekommen, war hier ganz
einfach. „Deus Caritas est�, heißt die Formel. „Gott ist Liebe.�
Wenn ich nun zum Schluss noch kurz berichte, dass ich in
Mexiko war, klingt das nach Luxus oder Schweinegrippe. Längst träume
ich nicht mehr von weiten Reisen, im Gegenteil. Das Ganze hat mit dem
armen Dorf Stepnoje zu tun, für das ich lange Zeit Pfarrer war.
Kriegsflüchtlinge aus Tadschikistan waren Mitte der 90-er mit höchstens
einer Reisetasche hierher gekommen und hofften auf neue Heimat und
spätere Wurzeln an der Wolga, da, wo einst ihre deutschen Vorfahren
lebten. Mit den Schwestern aus Marx und ständiger humanitärer
Unterstützung aus Deutschland, konnten wir vielen helfen. Es war für
die Entwurzelten aber auch eine Zeit des tieferen Nachdenkens und
Suchens nach Sinn. So entstand im Laufe der Zeit eine eigene
Pfarrgemeinde. Leider gab es im Dorf keine Arbeit. Niemand brauchte die
Dahergelaufenen, die nicht einmal richtige Ausweise hatten.
Eins der Kinder, das ich auf die Erstkommunion vorbereitete,
tauchte Jahre später bei den Sommerexerzitien im Kloster in Marx auf.
Sie studierte in Saratow, wurde Deutschlehrerin und � Ordensschwester.
Die Ordensgemeinschaft, in die Lena eintrat, wurde vor einem halben
Jahrhundert in Mexiko gegründet. Seit 15 Jahren gibt es Schwestern von
dort hier bei uns. Um sich noch vertrauter mit dem Geist der Gründerin
zu machen, wurde Lena im letzten Noviziatsjahr nach Mexiko geschickt.
Von da kam eines Tages die Einladung zum Fest ihrer Ersten Gelübde.
Nicht nur ich kenne Lena gut, sondern auch sie mich. Sie „wusste�, dass
es aussichtslos war, mich über den Ozean zu rufen. Trotzdem fügte sie
in zwei späteren Briefen nochmal die Erinnerung an die Einladung an.
Eines Tages kam sogar ein Päckchen mit einem „Beruhigungsmittel fürs
Flugzeug�� „Sicher lebt sie dort nicht ohne Heimweh�, ging es mir durch
den Kopf. „Und außerdem bewundere ich unsere jungen Leute, die mutig
die Antwort auf ihre Berufung wagen.� Irgendwann waren meine Prinzipien
gebrochen und ich buchte günstig bei Air France über den Atlantik, für
sechs Tage, noch rechtzeitig vor Ausbruch der Schweinegrippe. Ich habe
es nicht bereut.
Zwar lebe und arbeite ich mit Priestern und Ordensleuten aus
den verschiedensten Ländern der Welt in einem Bistum. Aber erst durch
diese Reise bin ich der Kultur einiger von ihnen begegnet, „ihrem�
Christentum, ihrer Geschichte. Das hat mir geholfen, besser zu
verstehen. Ich besuchte dort eine Stadt, in deren Priesterseminaren
2.000 junge Männer studieren! Andererseits hörte ich mit Erstaunen,
dass die mexikanischen Bischöfe erst jetzt die verpflichtende Katechese
in ihren Pfarreien einführen. Bedeutet das doch, dass man bisher auf
die ausreichende Glaubensweitergabe in den Familien gesetzt hatte, nun
aber nicht mehr. Im Gegensatz zu Russland, habe ich in den wirklich
überfüllten Kirchen viele Familien gesehen, Mütter und Väter, die mit
ihren � oft nicht wenigen � Kindern schon vor der Messe in den Bänken
beteten und warteten. Erst jetzt kann ich nachvollziehen, wie mutig es
für jede Einzelne der sechs mexikanischen Schwestern in unserem Bistum
gewesen sein muss, sich für Russland zu entscheiden.
Lena macht jetzt im Sommer irgendwann ihren Studienabschluss dort
in Mexiko. Ob sie danach in ihre Heimat geschickt wird? Ich hoffe es
sehr.
Das war mein erster Brief, den ich im von Papst Benedikt
ausgerufenen „Priesterjahr� geschrieben habe. Von Anfang an sehe ich,
dass das ein sehr praktisches und wichtiges Jahr werde kann, besonders
für uns Priester. Davon aber ein anderes Mal.
Ich möchte hiermit meinen Dank gegenüber allen erneuern, die
mir bei der Sorge um Seelen (Seelsorge) in Russland helfen. Renovabis,
Kirche in Not, Caritas, die Sumser Kinder-Stiftung und der St. Clemens
e.V. seien stellvertretend genannt, für die organisierte Hilfe, die uns
hin und wieder auch von deutschen Bistümern und Pfarrgemeinden zuteil
wird. Und ich danke denen, die solche Briefe per Hand oder Internet
weitergeben! Auch das ist Unterstützung. Außerdem gibt es dann aber
noch die vielen ungenannten/Gott-bekannten Einzelnen, die spenden und
mit beten. - Der Herr möge Sie in Ihren Nöten nie allein lassen,
sondern seine Nähe spüren lassen, in der Gewissheit, dass nur das Böse
vorübergehend ist, das Gute aber ein klitzekleiner Vorgeschmack der
Ewigkeit.
Mit einem herzlichen Gruß vom Ufer der Wolga
Ihr
+ Bischof Clemens Pickel