Bischof Reinelt predigte auf der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

am 24. Februar in Freiburg

Fest des Apostels Matthias

Bischof Joachim Reinelt

Bischof Joachim Reinelt - hier beim Bennofest in Meißen im Jahr 2006.



Liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,

„bleibt in meiner Liebe" - das ist die zentrale Botschaft dieses Apostelfestes.
Apostel sein und in Caritas, Liebe, bleiben, gehören untrennbar zusammen.

Ein Schlüsselerlebnis von Mutter Theresa am Beginn ihrer Berufung erschließt uns allen diesen Zusammenhang von neuem. Als Mutter Theresa noch Lehrerin in Kalkutta war, traf sie auf eine sterbende Frau, die in der Gosse lag. Diese Sterbende verbreitete einen solchen Ekel erregenden Geruch, dass Mutter Theresa einfach fliehen musste. Jedoch bereits an der nächsten Straßenkreuzung sieht sie diese Frau in der Gestalt des Gekreuzigten wieder vor sich. Sie begreift: der Gekreuzigte ist bei ihr und ich bin von ihr weggelaufen. Sie kehrt um, überwindet sich und nimmt die Sterbende in ihre Arme. Der Anfang einer ganz großen Geschichte unserer Kirche.

Gott ist ein Gott für die Welt und in der „Welt", wie dieser Begriff im Johannes-Evangelium verstanden wird. Gott - in die Welt hineinverflochten, ER ist die Caritas. Vom Abstieg in den Stall von Bethlehem, in die armselige Begrenztheit eines hilflosen Kindes, bis zur Vernichtung seiner irdischen Existenz mitten unter Verbrechern, hat der Sohn des lebendigen Gottes alle Konsequenzen der Weltverflochtenheit ertragen. Er machte sich eins mit der Welt der Bedrängten, lebte in der „Welt" der Blinden, Lahmen und Krüppel. Er „kam in die Welt" (Joh 1,9 b) und er bleibt in dieser Welt der Bettler, der Armen und aller Schmerzbeladenen. Er ist im Verzweifelten. Das ist seine Welt. „In jeder Not bist du uns nahe." Wenn das also seine Welt ist, wie könnten wir uns aus ihr heraushalten? Da gehören wir hin. Das ist unser Platz. Auch wenn wir damit tausend Schwierigkeiten einsammeln, Personalprobleme, Finanzierungsprobleme, Profilmangel, Versagen usw., da gehören wir hin und da bleiben wir, weil Gott da ist. 

Caritas preisgeben, hieße Gott preisgeben. Träger und Mitarbeiter müssen gemeinsam alles tun, um die Gefährdung auch nur einer Station zu verhindern.

Freilich wissen wir, der Anspruch ist hoch. Gott ist Caritas, Gott ist Liebe, da scheint der Begriff Caritas für unser diakonisches Handeln schon fast vermessen zu sein. Aber er kann uns auch demütig machen. Wir werden ja niemals dem Maß der Liebe Gottes gerecht werden können. Aber wir leben Caritas doch nicht nur als Sozialprogramm mit Professionalität, sondern getragen von Gott mitten unter uns, der in Christus sein Leben gibt in die Menschen, denen wir helfen. Das Evangelium des Apostelfestes zeigt uns, was Caritas heißt: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt." Caritas der Kirche muss etwas von Lebenshingabe haben! Sonst wird sie blass oder nur noch Job.

Grundsätzlich werden zwar viele dieser Herausforderung zustimmen, aber beim Dienst im Alltag, können hohe Ideale erbärmlich verkümmern. Hektik, Leistungsdruck und Konzentration auf die Sache blendet das „liebt einander" sehr schnell aus.

Für uns ist es trotzdem unverzichtbar. Das Schlüsselerlebnis von Mutter Theresa muss in unserem täglichen diakonischen Dienst gewissermaßen in Kleinformat wiederholt werden, weil die Zuwendung zum Menschen gleichzeitig Annäherung an Gott ist. Die Begründung unserer Caritas ist deshalb nicht nur die soziale Notwendigkeit, sondern auch die Würdigung, helfen zu dürfen. Ich darf Gott in meinem Nächsten, der mich braucht, begegnen. Caritas ist Gottesbegegnung. Alle großen Persönlichkeiten des alten und neuen Bundes kamen ins Zittern, wenn sie erkannten, hier begegnet mir Gott. Diese tiefe Ehrfurcht muss den in Caritas Handelnden erfüllen. Dann gibt er seinem Nächsten, dem Leidenden, die Hochachtung, die ihm gebührt. Caritas, der Ort einer überzeugenden Kultur der Ehrfurcht vor dem Nächsten. Daran sollte unsere Caritas erkannt werden.

Ist das nur Utopie? Nein, das gibt es. Diese Kultur der Ehrfurcht wird von Patienten immer wieder als Markenzeichen unserer Caritas erkannt. Das gibt es aber immer wieder auch zu wenig. Das ist der Grund, weshalb wir auch enttäuschen.

Aber wir leben nicht von Illusionen, wenn wir sagen: Beginnen wir neu. Caritas geht nicht ohne metanoia, wie Christsein nicht ohne täglichen Neubeginn möglich ist.

Wo Caritas diesen Weg geht, ist sie ein großartiges Zeugnis für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums. Sie ist unverzichtbar. Gerade in unserer Zeit, in der so viel geredet wird, hat das Tun ein besonderes Gewicht. Der Jakobusbrief sagt uns: „Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu Ihnen sagt: geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat." (Jak 2,15-17)

Bei der Auswertung der Arbeit Zivildienstleistender im Raum der Caritas haben mich die Berichte der jungen Menschen sehr beeindruckt. Fast jeder Zivi betonte, dass ihn die Arbeit bei Alten, Kranken und Behinderten nach Anfangsschwierigkeiten mit Freude und Zufriedenheit erfüllt habe. Sie erlebten offensichtlich durch die Hinwendung zum Nächsten ein Freiwerden von ihrer individualistischen Enge. Wer die junge Generation menschlicher haben will, muss ihr die Möglichkeit geben, caritative Erfahrungen zu sammeln. Dabei entsteht immer ein vielfältiges Netz von Beziehungen. Communio wird mit hilfsbedürftigen Menschen tiefer erlebbar, greifbarer als sonst. Zu Recht spricht man hier von Lebenserfahrung. (Auf diesem Weg ist auch die Versöhnung der Generationen am ehesten vorstellbar.)

Diese Erfahrung des Lebens, in Gemeinschaft der Helfenden den Nächsten beistehen zu dürfen, ist der unbezahlbare Schatz der Caritas, der denen zugute kommt, die lieben, wie Christus uns liebt. Gute Caritas schafft eine verschworene Gemeinschaft. Ein guter Caritastag kann zwar viel Kraft kosten, aber auch inneren Frieden und Erfüllung schenken.

Mutter Theresa hatte eine junge Novizin zum Dienst in das Sterbehaus von Kalkutta geschickt. Am Abend machte sie sich Sorgen, wie die junge Schwester wohl den Anblick der Sterbenden verkraftet habe. Sie fragte die Novizin. Diese antwortete in erkennbarem Frieden: „Ich habe den ganzen Tag den am Kreuz Dürstenden in den Armen gehalten."

Das ist Caritas!

Solches Caritas-Sein hat eine starke missionarische Kraft, ohne dass Worte nötig sind. Dabei ist völlig gleich, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, ob Katastropheneinsatz oder kleiner Dienst im Verborgenen, wo Caritas geschieht, ereignet sich Gott - Liebe.

„ Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt." (Joh 15,16) „Dies trage ich euch auf: Liebt einander!" (Joh 15,17)

Amen.



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