Kirche- und Christ-Sein in sich wandelnder Zeit

Predigt von Bischof Joachim Wanke (Erfurt) bei der Verabschiedung von Bischof Joachim Reinelt am 26.4.2012 in der Dresdner Kathedrale

Bischof Dr. Joachim Wanke
(Foto: Bistum Erfurt)

Wir wissen: Jede Eucharistiefeier ist eine Dankfeier. Wir danken Gott für sein österliches Heilswerk – durch Jesus Christus im Heiligen Geist. In diesen Dank darf jeder auch alles Gute einbringen, für das er persönlich danken will. Heute sind wir hier zusammengekommen, um unserem emeritierten Bischof Joachim Reinelt dabei zu helfen, Gott für die Jahre seines bischöflichen Dienstes hier im Bistum zu danken.

Deinen Bischofsweihetag im Februar 1988, lieber Mitbruder Joachim, habe ich noch in lebhafter Erinnerung. Es war ein Tag geistlicher Freude für das Gottesvolk. Freilich: Keiner von uns ahnte damals, wie schnell und dramatisch sich die Situation in der darauf folgenden Zeit ändern würde. Ich nenne nur die Stichworte: Proteste und Demonstrationen, die Öffnung der Mauer, der Zusammenbruch des alten Staates, die deutsche Wiedervereinigung – und das alles in einem Tempo, das uns schwindelig machte. Kaum jemand hatte das zuvor für möglich gehalten.

Anfangs hatte ich gemeint, diese Veränderungen beträfen nur die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Für uns als Kirche schien sich zunächst nichts zu ändern: Weihnachten blieb Weihnachten – und Ostern blieb Ostern. Und auch unser Credo brauchten wir nicht umzuschreiben.
Doch habe ich sehr bald meine Meinung revidiert. Die dramatischen Ereignisse von damals haben auch uns und die Situation unserer Ortskirchen zwischen Werra und Neiße verändert. Es ist nicht einfach, Außenstehenden, besonders unseren Glaubensgeschwistern im Westen, verständlich zu machen, was sich da eigentlich unmerklich änderte.

Natürlich änderte sich zunächst vieles zum Guten. Die ersehnte Freiheit war uns geschenkt, besonders die Reisefreiheit. Neue Möglichkeiten erschlossen sich, dem Einzelnen, den Menschen insgesamt und auch dem kirchlichen Wirken. Es gab nun Möglichkeiten und Chancen, von denen wir vor der friedlichen Revolution nur träumen konnten.

Aber eines wurde sehr bald deutlich: Die Verkündigung des Evangeliums war nicht einfacher geworden. Im Gegenteil: Die offene, liberale Gesellschaft, in die wir damals eintauchten, brachte für den Glauben Herausforderungen neuer Art mit sich.
Ich bringe die uns in den neuen Ländern gestellte seelsorgliche Herausforderung nach der Wiedervereinigung gern auf die folgende Formel: Früher, im alten 
Ideologie-Staat mussten wir in der Seelsorge auf den Verdacht reagieren: Kirche, religiöser Glaube verdirbt das Denken. Wir hatten pastoral an einer ideologischen Front zu kämpfen, was wir mit einigem Erfolg auch getan haben.

Jetzt aber, in der offenen, liberalen Gesellschaft lautet der „Verdacht“: Gottesglaube, zumal in kirchlicher Gestalt, verdirbt das Leben. Christ-Sein: das sei Bindung, das sei Einengung, das sei Bevormundet-Werden. Der religiöse Glaube mache das Leben mickrig und kleinkariert, nehme ihm die Freiheit und die Freude am Genießen des Lebens, kurzum: er „stört“. Und neuerdings tritt noch der Verdacht hinzu: Jeder religiöse Mensch sei ein potentieller Fundamentalist, um den man am besten einen weiten Bogen macht.

An dieser Front pastoral zu kämpfen ist bedeutend schwieriger! Ich denke an so manche Begegnungen von Seelsorgern aus Ost und West, die um solche Überlegungen kreisten. Wir staunten damals über die Probleme und Sorgen der westlichen Mitbrüder – und diese staunten über unsere kirchlichen Selbstverständlichkeiten. Scherzhaft sagten wir dann, gleichsam zur Erklärung: Die Kommunisten haben uns dabei geholfen, als Kirche beisammen zu bleiben. Ich erinnere nur an das Katholikentreffen 1987 hier in Dresden, das unserem Selbstbewusstsein einen kräftigen Aufschwung gab.

Damit verleugne ich nicht mancherlei Engführungen und Abschottungen unseres DDR-Kirche-Seins, die sich besonders nach der Wiedervereinigung zeigten. So gab es dringenden Lernbedarf – des Ostens vom Westen und auch des Westens vom Osten.

Dein Wirken als Bischof, lieber Mitbruder, war besonders von der Aufgabe geprägt, dieses gegenseitige innerkirchliche Lernen und Aufeinander-Hören zu befördern. So bist Du zu einem Bischof des innerdeutschen Dialogs geworden.
Du warst bereit, schon bald einen gesamtdeutschen Katholikentag nach Dresden einzuladen. Du hast für viele Jahre den Vorsitz in der Caritaskommission unserer Bischofskonferenz übernommen. Du hast in unseren gesamtdeutschen kirchlichen Begegnungen, nicht zuletzt auch bei den Bischofskonferenzen, immer auf konstruktive, und oft auch humorvolle Weise die Erfahrungen und die Stimme des Ostens eingebracht – eben in dem Sinn, so sich gegenseitig besser zu verstehen. Dafür sei Dir heute einmal sehr herzlich gedankt!

In dieser Stunde sei daran erinnert: Gerade die Kirchen (ich spreche hier bewusst im ökumenischen Plural!) haben zum Zusammenhalt der Menschen in Ost und West und zum Gelingen der Einheit Wesentliches beigetragen. Wir haben um die Einheit unseres Volkes gebetet, auch in einer Zeit, als manche Partei- und Meinungsführer dies als anachronistisch erachteten. Und als die Einheit so überraschend kam, haben wir uns über sie gefreut. Viele aus den Gemeinden waren bereit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Angeregt durch die Kirchen gab es Austausch und gegenseitige Vernetzung der Menschen, es gab vielfältige Kontakte, Besuche, Partnerschaften und vieles andere mehr.
 
Eine kostbare Erfahrung aus jenen Jahrzehnten staatlicher und ideologischer Pressionen können wir für den weiteren Weg unserer Kirche im geeinten Deutschland einbringen: Die Kirche geht nicht unter, wenn ihr der Wind ins Gesicht weht! Wir haben den alten Staatssozialismus überstanden. Wir werden auch in der Marktwirtschaft nicht untergehen. Es gilt freilich, damals wie heute: christliches Profil zu zeigen, zu Überzeugungen zu stehen und sich von Mehrheitsmeinungen nicht beeindrucken zu lassen. Es ist uns nicht verheißen, dass wir in einer „christentümlichen Gesellschaft“ unser Christsein praktizieren können. Die Rheinländer und Bayern, die jetzt in Sachsen und Thüringen leben, sind gerade dabei, dies zu verinnerlichen.

Die Grundaufgaben seelsorglichen Arbeitens, für die Du, lieber Mitbruder Joachim, mit Deinen Mitbrüdern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingestanden bist, bleiben auch morgen in Geltung: Es geht und wird auch in Zukunft beim Werk der Seelsorge um diese drei Dinge gehen:
• um die Weitung des Lebenshorizonts auf Gott und seine österlichen Verheißungen hin,
• um den Aufbau und die Festigung einer Kirche, in der das Gotteslob nicht verstummt, und
• um eine selbstlose Bereitschaft, in den „Schwachen“ und „Notleidenden“ der heutigen Wohlstandsgesellschaft Christus zu erkennen und ihm zu dienen.

Dazu zu befähigen und „anzustiften“, eine solche Art von Kirche- und Christsein zu ermöglichen und zu leben, das bleibt eine lohnenswerte und wichtige Aufgabe – auch für morgen.

In den DDR-Jahrzehnten haben wir gelernt: In der Kirche sind Personen wichtiger als Strukturen. Vor sich hergetragene Amtsautorität wirkte bei uns noch lächerlicher als anderswo. Was nicht vom Glauben und vom Gottvertrauen „unterfüttert“ war, blätterte schnell ab und erwies sich auch für das Leben der Kirche als unfruchtbar.

Ich denke an die Caritas: Sie lebte damals mit ihren bescheidenen Möglichkeiten weithin vom bewundernswerten Einsatz von Frauen und Männern, die die Caritas aus Überzeugung zu ihrem Beruf machten. Oder ich denke an so manche sog. „Seelsorgehelferin“, die unter armseligen Verhältnissen und mit kleinsten Gruppen in Kindern und jungen Menschen Freude am Glauben weckte. Solche Christuszeugen waren und sind der wahre Reichtum unserer Diaspora-Kirche. Zu ihnen gehört auch der neue Selige des Bistums, Kaplan Andritzki, der sein Leben für das Evangelium einsetzte. Jeder von uns könnte solche Personen benennen, die für ihn persönlich im Blick auf die eigene Frömmigkeit bedeutsam waren. 

In vielen Glaubensbiographien hier im Osten ist die Erfahrung des „Weizenkorngesetzes“ gemacht worden: Im Loslassen, im Verbraucht-Werden „gewinne“ ich alles. Die Verhältnisse in der früheren DDR haben sicherlich zu solcher kreuzesförmigen Christusnachfolge strukturell mehr Gelegenheit gegeben. Der einzelne Christ, dem Bildungs- und Aufstiegschancen verwehrt wurden, brauchte nicht lange zu fragen, worin er dem Kreuzträger Christus ähnlich sein sollte. Er wusste es. Und so wuchs er in die Christusnachfolge hinein – und das aus Gnade, nicht aus eigener Kraft.

Auch diese Erfahrung möchte ich in diese Stunde einbringen: Der Osten hat schon eher als andere Abschied nehmen müssen von der Meinung, der christliche Glaube müsse sich kraft seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit ausweisen. Dass er zutiefst fruchtbringender „Humus“ für eine humane Gesellschaft sein kann, ist unbestritten. Aber man sollte nicht so viel davon reden. Sonst glaubt es am Ende keiner mehr. Wichtiger wird sein, dass wir uns auf den „Acker“ dieser Welt und Gesellschaft ausstreuen lassen, uns in Nachahmung der Gesinnung unseres Herrn „unterpflügen“ lassen. Man geht dabei nicht unter. Das haben mir immer wieder Gläubige bestätigt, die allen Grund gehabt hätten, ordentlich „frustriert“ zu sein – auch nach der „Wende“. Hier sehe ich Zukunftweisendes, auch für die Gestalt von Christ- und Kirchesein unter den Bedingungen einer freien, liberalen, ökonomisch orientierten Gesellschaft. Vermutlich sieht nur die Gestalt des „Untergepflügt-Werdens“ anders aus als damals im Vorwende-Osten Deutschlands.

Wir hörten heute im Gottesdienst den Bericht aus der Apostelgeschichte, wie Philippus den äthiopischen Kämmerer für den Glauben gewann. „Und er verkündete ihm das Evangelium von Jesus“. Das war der Kernsatz dieser Perikope, in der sicher Missionserfahrungen der Alten Kirche eingefangen sind. Genau diese Aufgabe steht auch für uns heute an: Das Evangelium auf Mitteldeutsch, auf Sächsisch zu verkünden – durch Wort und Tat, durch unser Leben, so gut wir es können – und das in Freude und geistlicher Zuversicht. 

Und wenn eines diese Zuversicht bestärken kann, dann ist es unsere Erfahrung: Die Geschichte ist immer für Überraschungen offen – oder besser: Gott selbst hält die Geschichte offen. Das durfte unsere Generation erfahren. Und der nachwachsenden Generation sei gesagt: Gott bleibt auch morgen der Herr der Geschichte – und er wird auch weiter die Herzen, die Biographien der Menschen berühren und verwandeln. Bitten wir, dass wir ihm dabei helfen dürfen. Amen. 



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