Vera und ihre sieben Kinder

Bischof Clemens Pickel berichtet aus Südrussland über seine Erlebnisse in den Sommerferien

Bischof Clemens Pickel



Liebe Freunde im deutschen Sprachraum!

Die dreimonatigen Sommerferien in Russland gehen dieser Tage zu Ende. Sie sind wie im Flug vergangen. Aus einem Ausflug mit den afrikanischen Studenten in Saratow wurde nichts. Auch eine zusätzliche, zumindest kleine „RKW“ (religiöse Kinderwoche) in Marx kam nicht zustande. Aber es wäre ungerecht, darüber zu klagen, denn die Wochen und Monate waren mit Wesentlichem gefüllt und … schön.

Ich möchte kurz die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Besuch aufs Papier bringen. Am 11. und 12. August schrieb ich in meinem Internet-Blog davon. Vera, eine Frau aus Astrachan, die sieben schwer behinderte, elternlose Kinder bei sich aufgenommen hat und sie erzieht wie eine Mutter, kam mich mit ihrer Rasselbande besuchen. Im Kinderheim hatten sie nicht einmal richtig sprechen gelernt. Nun, nach Jahren, gehen sechs der sieben sogar zur Schule! Vera hat schon viele Anfeindungen erlebt und sich vor der Polizei rechtfertigen müssen. Von Beruf Ärztin, hat sie eine zähe Natur und – Gott sei Dank – auch Freunde, die sie in rechtlichen Fragen beraten.

Nach den 900 km von Astrachan bis Saratow, für die Vera mit ihren Kindern (von 9 bis 18 Jahren) zwei Tage in ihrem russischen Armee-Jeep gebraucht hatten, war ein Tag Aufenthalt bei mir geplant. Vera wollte eigentlich nur etwas besprechen und konnte die Kinder nicht allein lassen. Als die Gruppe dann bei einem Spaziergang einen Jungen in der Stadt verlor, war der Tag gelaufen. Stundenlang suchten wir den „verlorenen Sohn“, schalteten schweren Herzens sogar die Polizei ein. (Im schlimmsten Fall hätte das zu einer Beschuldigung Veras und einer Entziehung der Sorgerechte führen können.) Erst dann kam mir der Gedanke, dass das Handy des Jungen nicht funktioniert, weil er sich nicht in seiner Heimatregion befindet, deshalb jedes Gespräch sehr teuer ist, und Handytelefonie bei uns im Voraus bezahlt sein muss. Im nächsten Laden zahlte ich 300 Rubel auf seine Nummer ein. Ein paar Minuten später rief er Vera an und erklärte ihr, was er um sich herum sieht. Innerhalb kürzester Zeit fanden wir ihn.

Diese Geschichte bewegte mich dazu, weniger wichtige Termine am nächsten Tag zu verschieben und Vera mit ihren sieben Schützlingen um einen weiteren Tag in Saratow zu bitten. Das war abends, kurz vor dem Schlafengehen. Die Kinder wollten es im ersten Moment nicht glauben. Die Freude war beiderseits groß. So kamen wir auch dazu, einen Ausflug nach Marx zu machen. Einige Schwestern erwarteten uns bereits im Kinderzentrum neben der Kirche, das im August größtenteils leer steht. Besonders die kleine Turnhalle wirkte wie ein Magnet auf die Mädchen und Jungen, die sich überall wie aufmerksame Geschwister benahmen. Auch vom Spielzeug und einem Kinderfilm ließen sie sich in den Bann nehmen. Dann ging es zum Mittagessen. „Sooo gute Kartoffeln!“ … „Wer hat die Fleischklößchen gemacht?“ … „Darf ich noch ….?“ Die Kinder sparten nicht mit Lob. Dass die Schwestern schließlich jedem ein persönliches Geschenk vorbereitet hatten, war die Krönung.

Eigentlich bat Vera zum Schluss nur darum, ihr die Ausfahrt aus Saratow zu erklären, damit sie schnell wieder auf die große Straße Richtung Süden käme. Da ich es jedoch mit einem Treffen in Kamyshin verbinden konnte, begleitete ich unsere Gäste am Samstagabend noch 200 km weiter, als von denen erwartet. Natürlich saßen drei der Kinder bei mir im Auto, was die Fahrt teils spannend, teils lustig machte. Wir übernachteten in Kamyshin in der priesterlosen Pfarrei. Nach einem zeitigen Frühstück brachen wir auf, Vera und ihre Kinder gen Süden: 700 km, ich gen Norden – nur – 200 km zur Sonntagsmesse in der Kathedrale.

Am späten Sonntagabend kam die Nachricht: „Wir sind wieder zu Hause“. Wir waren wie im Paradies.“ Und Tage später dankte Vera nochmals im Namen der Kinder: „Wir haben noch nie erlebt, dass Menschen unseretwegen ihre Pläne ändern und uns so viel Zeit schenken. Den Kindern wird es helfen zu glauben, dass Gott gut ist, und weniger Angst vor der Zukunft zu haben.“ Ich war beschämt und überlege, wie wir ihr weiter helfen können. Eine Idee gibt es schon: Im nächsten Sommer nehmen wir alle zur Kinderwoche nach Marx, bei der die Hälfte der Kinder ausgewählte Schüler aus Marx sein werden, die andere Hälfte … 7 Helden aus Astrachan. Einige der Ordensschwestern könnten das aufgrund ihrer fachlichen Ausbildung und ihrer natürlichen Gaben in die Hand nehmen. Und Vera könnte in der Nähe wohnen, aber praktisch einmal 7 Tage ausruhen.

Nun würde ich hier beinahe noch ausführlich über die Zustände in Saratower Krankenhäusern berichten. Aber das Stück Papier reicht nicht. Und wenn man es nicht erlebt, glaubt oder versteht man doch nicht bis zum Schluss. Eine unserer Schwestern liegt zurzeit im Krankenhaus. Darum sehen und hören wir, wie grob Ärzte sein können, wie einer dem anderen den Ball zuzuspielen versucht, wie arme Leute ihr letztes Geld zusammenkratzen, um dafür zu bezahlen, dass der Arzt etwas tut, was kostenlos zu machen wäre, wie man Medikamente verwechselt und eine Infusion, die für einen unauffindbaren Mann bestimmt war, einer anderen Patientin anschloss. Auf deren Schreck kam zur Antwort: „Bei uns bekommen alle das Gleiche.“ – „Es sind alles arme Leute hier“, sagt unsere Schwester, die in einem Zimmer mit drei anderen Frauen liegt. „Alle wollen über Gott etwas hören und erzählen mir ihr Leben. Vielleicht hat mich der liebe Gott hierher geschickt, damit ich Katechese mache“, sagt sie, ohne dass klar ist, wie es mit ihr selbst weiter geht. Täglich bringen wir Essen ins Krankenhaus, auch für eine ganz arme Frau, die neben unserer Schwester liegt…

Und ganz zum Schluss - zurück zum Anfang. Die Ferien gehen zu Ende. Schulbücher, Schuhe und Kleidung für die Heranwachsenden sind für viele Eltern in kleineren Orten ein Problem. Wir helfen ihnen mit dem, was wir weitergeben dürfen. Sogar eine Familie mit drei Kindern aus dem Dorf Simplon in der Schweiz hat davon erfahren und geholfen. Wer sich an der Aktion beteiligen will, kann (und soll) das gern über den Sankt Clemens Verein tun. Hier noch einmal dessen Koordinaten: St. Clemens e.V., Lilienweg 12, 37308 Heilbad Heiligenstadt, Spendenkonto: Pax-Bank e.G. - BLZ: 370 601 93 - Ko.: 500 4950 030. Man kann dort auf Wunsch auch eine Spendenbescheinigung bekommen, muss aber dann seine Absenderadresse entsprechend deutlich angeben.

Gestern verließen uns Gäste aus dem Rheinland. In einem kleinen Dankwort sagten sie u.a. „Wir haben viel bei Ihnen gelacht.“ Das ist das Wunder bei allem Bedrückenden, das einem hier alltäglich vor Augen tritt, der Glaube einfacher Menschen und seine lebendige Kraft. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1 Kor 13,12f).


Mit Dank und herzlichen Grüßen
Ihr

+ Clemens Pickel

Diözese St. Clemens in Saratow



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