Die vergessene Flutregion

Bischof Koch besucht Hochwasserregionen in Ostthüringen und Pirna

In Gera liegt verschmutzter Sperrmüll in Bergen an den Straßenrändern.

In Gera liegt verschmutzter Sperrmüll in Bergen an den Straßenrändern.

Gera/Bad Köstritz/Stadtroda/Pirna, 10.06.2013 (KPI): Sie fühlen sich vergessen, hier in Ostthüringen. „Angefangen von der großen Politik über die Medien bis hin zu den Fluthelfern: wer denkt schon an uns“, beklagt Maria Ihl, Gemeindereferentin in Gera. Eine gute Woche ist es her, da traten in der Region die Flüsse über die Ufer, überfluteten Wohnungen, verwüsteten Betriebe und hinterließen verschlammte Gärten und Straßen. Doch der Blick der Öffentlichkeit richtete sich auf andere Brennpunkte: an die Elbe und die Mulde. Nach Dresden und Meißen. Städte, von denen man schließlich weiß, dass sie hochwassergefährdet sind.

Da tut es gut, dass zumindest Bischof Heiner Koch an diesem Sonntag aus Dresden nach Gera gekommen ist. Hier, im Stadtteil Untermhaus, wohnen seit 1989 Marcella und Jürgen von Jan. Sie lieben diesen Stadtteil, in dem auch der Maler Otto Dix geboren wurde. Doch dass die Weiße Elster ihr Zuhause völlig unvorbereitet überschwemmen würde, damit hatten beide nicht gerechnet. An das letzte große Hochwasser in der Stadt hat kaum noch jemand Erinnerungen. „Es gibt ein Bild von mir aus dem Flutjahr 1953. Da sitze ich im Kinderwagen“, so Jürgen von Jan.

Berichten von ihren Fluterlebnissen (v.l.n.r.): Marcella und Jürgen von Jan im Gespräch mit Dekan Klaus Schreiter, Bischof Heiner Koch und Geras Oberbürgermeisterin Viola Hahn.

Berichten von ihren Fluterlebnissen (v.l.n.r.): Marcella, Jürgen von Jan und eine Nachbarin im Gespräch mit Dekan Klaus Schreiter, Bischof Heiner Koch und Geras Oberbürgermeisterin Viola Hahn.

Genau wie seine Frau arbeitet er am Puppentheater der Stadt. Kreative, schöpferische Menschen sind sie. Und sie machen ihrem Zorn Luft. „Am Anfang war es sehr schwer“, erzählt Marcella von Jan. „Die wenigen Informationen, die wir hatten, sollten wir untereinander weitergeben. Aber versuchen Sie das mal, wenn der Strom abgeschaltet ist und kein Telefon und keine Türklingel mehr funktioniert.“

„Wir haben informiert“, versichert Viola Hahn, die Oberbürgermeisterin von Gera, die sich mit dem Bischof auf den Weg zu ihren Bürgern gemacht hat. „Wir haben stündlich Informationen im Internet eingestellt. Doch in den meisten Haushalten funktionierten die Computer nicht mehr. Zuletzt haben wir gesagt: jetzt müssen wir Handzettel verteilen, wie früher.“ Immerhin - sie hat Antragsformulare mitgebracht, auf denen die Bewohner Unterstützungen der Stadt beantragen können.

Auch Sylke Rudolph kann sich nicht an ein Hochwasser in Gera erinnern. Fast 400 Meter wohnt sie von der Weißen Elster entfernt. An jenem regnerischen Montagmorgen allerdings stand sie um 5.30 Uhr morgens in ihrem Garten. „Es war ein ungutes Gefühl“, sagt sie, „ich spürte, hier stimmt etwas nicht.“ Wie ihre Nachbarn beschließt sie, an diesem Morgen nicht zur Arbeit zu fahren. Um 10 Uhr dann kommt das Wasser. Von zweiten Seiten schließt es das Haus ein, in das sie erst vor fünf Jahren mit ihrer Familie eingezogen war.

Zeigt den Wasserstand in ihrem Haus: Sylke Rudolph.

Zeigt, wie hoch das Wasser im Haus stand: Sylke Rudolph.

Mit ihrem Mann versucht sie noch ins obere Stockwerk zu schleppen, was sie tragen können. Doch rasch steigt das Wasser auf über einen Meter in der Wohnung an. Bringt Schränke zum Umkippen und legt das Inventar zu Bruch. Ihre Kinder werden schließlich mit dem Schlauchboot aus dem Haus geholt. Später lassen auch sie und ihr Mann sich abholen. „Wir sind zum Glück versichert“, sagt sie. Und: „Die Nachbarschaftshilfe ist unwahrscheinlich.“

Auch Geras Dekan Klaus Schreiter ist unterwegs zu den Menschen. Er hört zu, spricht mit den Menschen. Und kann, wo besondere Not herrscht, aus dem 100.000-Euro-Soforthilfefonds des Bistums mit ein paar hundert Euro zumindest eine kleine finanzielle Ersthilfe geben.

In Gera-Langenberg stehen Andreas Ham und seine Frau Veronika mit Gummistiefeln knöcheltief im Schlamm. Auf eineinhalb Hektar Fläche betreiben Sie hier seit 1992 eine Gärtnerei. Auf Wasserpflanzen haben sich die Hams spezialisiert. „Wir haben uns das Gelände extra wegen der Teiche und dem Fluss ausgesucht“, erzählt das Ehepaar. Doch nun hat ausgerechnet das Wasser ihre Existenzgrundlage gefährdet.

200 Meter ist die Weiße Elster normalerweise entfernt. Doch nun hatte sie die Gärtnerei völlig überspült. Was von den Pflanzen durchkommt? „Wir müssen abwarten“, sagt Andreas Ham. Verwandte und Freunde packen mit an, um der Familie ein Stück Alltag zurückzugeben. Und auch der Geraer Kaplan Mariusz Noparlik ist mit einer Gruppe Firmlinge vor Ort, um das zerstörte Gewächshaus abzubauen.

In Gera helfen Firmlinge der Familie Ham beim Aufräumen ihrer Gärtnerei.

In Gera helfen Firmlinge der Familie Ham beim Aufräumen ihrer Gärtnerei.

 „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ – diese Frage hat Bischof Koch am Morgen in Gera in seiner Predigt selbst gestellt. Die letzte Antwort darauf muss auch er schuldig bleiben. Doch der Bischof macht Mut. Mut zum Glauben. „Gott ist größer“, sagt er. 

Trost, den Ramona Ullrich gut brauchen kann. Mit ihrer Familie sitzt sie am Kaffeetisch in der Hainbüchter Mühle in Stadtroda. Nichts lässt erahnen, dass hier noch vor einer Woche die gesamte Wohnungseinrichtung in Sicherheit gebracht werden musste. Dass sie mit sieben weiteren Frauen bis zur Erschöpfung Wasser aus der Wohnung schöpfte, während draußen die Männer auf dem Firmengelände mit den Wassermassen kämpften. Vor dem Küchenfenster stand das Wasser des kleinen Mühlbachs unmittelbar unterhalb des Fensterbretts, der Innenhof des Gebäudekomplexes lief voll Wasser. „Dann war der Strom weg und hier brach das Chaos aus. Das Wasser kommt durch die Wände. Das ist unvorstellbar.“

Man spürt der zierlichen Frau an, dass ihr die Belastung der letzten Tage nahegeht. Der Familienbetrieb, spezialisiert auf Tierfutter, steht vor schweren Zeiten. Nach 1981 und 2007 wurde das Mühlengelände erneut Opfer der Fluten. Das Haus hat eine lange Tradition. 2017 wird die Mühle 400 Jahre alt. „Die Bebauung flussaufwärts hat die Situation so verschärft, dass wir heute Überschwemmungsgebiet sind“, erzählt Firmenchef Manfred Wollnitzke.

Drei Viertel seines Lagers hat er verloren. Auf dem Schaden bleibt er sitzen. „Wer am Fluss wohnt, wird nicht mehr versichert“, sagt der drahtige Mann. Doch es muss weitergehen, das ist er auch seiner Familie und den 13 Angestellten schuldig. Schon sind die Fahrzeuge wieder betriebsbereit, erste Aufträge werden wieder ausgeführt. „Wir haben ganz fantastische Helfer gehabt. So was geht nur, wenn man Vereine hat, Verwandte, Freunde.“ Vom Fußballverein der Söhne, über den Männerchor, in dem der Vater singt, bis zu den Helfern aus Pfarrei und Faschingsverein: wohl an die hundert Freiwillige standen der Wassermühle zur Seite.

Abendmesse zwischen Bankpyramiden in Pirna.

Abendmesse zwischen Bankpyramiden in Pirna.

Am Abend dann erlebt Bischof Koch nach einem langen Tag noch einen außergewöhnlichen Moment in Pirna. In der Stadt, die nach 2002 erneut von der Elbe schwer getroffen wurde, hat sich die Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Während die historische Klosterkirche der Gemeinde im Ort vom Elbewasser überspült voller Schlamm klebt, blieb die ein wenig höher gelegene kleine Pfarrkirche St. Kunigunde vom Wasser verschont. Pfarrer Norbert Büchner war bereits auf das Schlimmste vorbereitet. Mit einigen Männern seiner Gemeinde hatte er die Bänke auf kleinen Podesten aufgebockt.

In dieser Kulisse feiern Pfarrer und Bischof nun mit der Gemeinde im Stehen die Abendmesse. Der Strom ist in der Stadt abgeschaltet. Im Schein einiger Baulampen, die ein Notstromaggregat speist, rücken die Gläubigen um einen kleinen Altartisch zusammen. Viele sind in Gummistiefeln gekommen. Sie wollen gerade jetzt in der Not zusammenhalten. Und viele hoffen, dass dieses Gefühl auch dann anhält, wenn das Wasser längst wieder aus ihrer Stadt abgeflossen ist.

Text/Fotos: Michael Baudisch



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