"Jeder Moment Zeit der Gegenwart Gottes"

Predigtgedanken von Bischof Heiner Koch zur Bistumswallfahrt am 6. Juli

Bischof Heiner KochJede Sekunde unseres Lebens bringt uns unserem Tod näher, todsicher. Keiner von uns weiß, ob er den morgigen Tag noch erleben wird, keiner weiß, wie viel Zeit ihm noch gewährt ist. „Mitten im Leben sind vom Tod wir umfangen“. Diese uns unter den Händen zerrinnende Zeit macht Angst: diese Unwiederbringbarkeit gelebter Zeit. Und sie stellt die Frage, wie wir die Zeit, die uns noch bleibt, gestalten, wie wir sie sinnvoll nutzen, wie wir sie erfüllt leben. Doch je mehr die Antwort auf diese Fragen unklar ist, umso mehr drängt der Mensch, ja keine Zeit zu verlieren. Atemlos hetzen wir durch die Stunden unseres Lebens, immer schneller, je weniger wir wissen, wie viel Zeit uns bleibt und wohin sie uns führt.

Wie anders waren da das Zeitverständnis und das Wissen um das Geheimnis der Zeit des Seligen Alojs Andritzki, dessen 100. Geburtstag wir heute feiern. Gerade in seinen Briefen wird deutlich, wie zeitbewusst er lebte: er wusste, dass am Anfang seines Lebens, im ersten Augenblick seiner Vergangenheit das Wort des liebenden Gottes stand, das ihn ins Leben rief. Er war fest davon überzeugt, dass von diesem Ruf Gottes her sein Leben kein Zufall war, und er und seine Lebenszeit keiner blinden Schicksalsmacht ausgeliefert. Alojs Andritzki aber wusste auch, wohin seine Zeit lief: auf Gott zu, der am Ende der irdischen Zeit auf ihn wie auf uns wartet. Diese Perspektive gab seinem Leben Richtung und Zuversicht auch in den schweren Stunden des Konzentrationslagers. Sein Wissen um die Vergangenheit in der Hoffnung auf die Zukunft ließen ihn entschieden die Gegenwart leben: „Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns an ihm freuen.“ (Psalm 118, 24) Alojs lebte ganz bewusst in der Gegenwart Gottes. Der unendliche Gott ist in Jesus Christus in unsere Zeit gekommen: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“. (Gal 4,4) Seitdem gilt für jeden von uns: Unsere Zeit ist erfüllt von der Gegenwart Gottes. Er ist in unserer Zeit Gegenwart, gegenwärtig. Seitdem gilt: „Die Zeit ist erfüllt!“ (Mk 1,15). Seitdem ist jeder Moment unseres Lebens Zeit des Heils, Zeit der Gegenwart Gottes. Sie ist nicht mehr nur ein Maß unserer Vergänglichkeit, nicht nur Chronos, sondern Zeit des Heils, Heilszeit, Kairos, in jedem Augenblick: Geschenk Gottes, seine Gegenwart. Seitdem Gott in die Zeit dieser Welt und in die Zeit eines jeden Lebens gekommen ist, ist er mein und unser Zeitgenosse.

Von diesem Zeitgenossen hat Alojs Andritzki Zeugnis abgelegt. Er ist zum Zeitzeugen Gottes geworden. So klar, so entschieden, so vertrauensvoll und verantwortlich vor Gott lebte er seine Zeit in der Gegenwart Gottes bis in die Stunde seiner Ermordung hinein. Alojs Andritzki ruft an seinem 100. Geburtstag, am Beginn seines irdischen Lebens,  uns allen, die wir noch durch diese Erdenzeit wandern, zu: „Schlagt die Zeit nicht tot! Seid Zeitzeugen eures Zeitgenossen Jesus Christus.“  „Die Liebe hört niemals auf.“ (1 Kor 13,8)

+ Dr. Heiner Koch
Bischof von Dresden-Meißen



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