Die Würde eines jeden Menschen achten

Predigt von Bischof Dr. Koch im Requiem am 13. Februar 2015

Bischof Dr. Heiner Koch












Am 13. Februar 1945 legte der 2. Weltkrieg, den Deutsche furchtbar entfacht hatten, Dresden in Trümmer, Schutt und Asche. Feuer und Leichen überall. Amerikanische und britische Bomber zerstörten an zwei Tagen vor allem das Zentrum dieser Stadt. Die Historiker zählten mindestens 25.000 Tote. Ihr Tod war einkalkuliert wie die Millionen von Toten, die Hitler und die, die ihn auch in Dresden unterstützten, auf den Schlachtfeldern dieses Weltkrieges wie in den Konzentrationslagern vernichten ließ. Für viele waren sie nichts als Kanonenfutter oder zu vernichtendes Menschenmaterial, aber jeder von ihnen war ein Mensch. Wer aber ist der Mensch? Gerade in den letzten Wochen haben wir hier in Dresden diese Frage mit großer Sorge und mit viel Leidenschaft diskutiert. In den Gesprächen über die Flüchtlinge, die zu uns kommen, wie auch in den Diskussionen über den sterbenden Menschen und den assistierten Suizid. Viele haben Angst vor solchen Definitionsversuchen: Der Mensch ist nichts als ein biologisch-chemisches Wesen, nichts als ein Konsument, nichts als ein Arbeitender zur Erhöhung des Bruttosozialprodukts, nichts als ein Beitragszahlender in die Sozialversicherungen unseres Staates, nichts als ein Obdachloser, nichts als ein Flüchtling. Aber das ist falsch! Keiner ist nichts, jeder ist ein großartiger Mensch! Die Wissenschaftler sagen, dass bis heute 106 Mrd. Menschen auf unserer Erde gelebt haben. Aber keiner von ihnen war eine Kopie eines anderen. Jeder hatte seine eigenen Gaben, Talente, Charismen, seinen eigenen Körper, seinen eigenen Geist, seine Seele und jeder hatte seine eigene familiäre und gesellschaftliche Umgebung, die ihn prägte. Und jeder hatte seine ureigenen Aufgaben in seinem Leben zu meistern, die nur er auf seine Weise bewältigen konnte. Jeder Mensch war eine einmalige Gabe und hatte seine einmaligen, sich nur ihm stellenden Aufgaben. In der jüdisch-christlichen Tradition sagen wir: Jeder hat von Gott her seine Berufung, die nur ihm von Gott her eigen ist. Das macht seine bleibende Größe aus. Mögen die Menschen ihm diese Größe auch immer wieder in seinem Leben absprechen. Jeder von uns Menschen ist groß und würdevoll. So gilt für jeden und jede von uns die Aufforderung: Lebe groß und würdevoll und achte und fördere den Menschen an deiner Seite in seiner Größe und in seiner Würde!

Immer wieder müssen wir uns dieser uns eigenen Größe und Würde und der unseres Mitmenschen bewusst werden. Einen wirkungsvollen und bedeutsamen Weg dazu weist uns der Tag der Trauer. Er ist ein Tag der Erinnerung. Erinnerung, das ist mehr als das Sammeln von Inschriften oder die Aufstellung von Chronologien. Wer sich er-innert, der holt seine persönliche Geschichte und die Geschichte seiner Heimat und der ganzen Welt vor sein inneres Auge:

•    Er erinnert sich seiner Vergangenheit, die ihn prägt, die ihm half, sein Leben zu entfalten, aber manchmal auch bis in die Gegenwart belastet. Unsere Kindheit in unserer Familie, die Jahre unserer Schulzeit, die Erfahrung mit unseren Freunden und Freundinnen sind nicht nur Vergangenheit, sie leben in uns fort. Unsere Vergangenheit ist ein Teil unseres gegenwärtigen Lebens. Wir verstehen einander oft nur, wenn wir unsere Geschichte verstehen.

•    Wir erinnern uns unserer Gegenwart. Sie ist der kleine Augenblick unseres Lebens, den wir gestalten können und müssen. Jeder von uns hat Tausende von Lebensmöglichkeiten, wie er sein Leben gestaltet, was er tut und was er sein lässt und wie er es tut. Jeder von uns schreibt seine einmalige Lebensgeschichte, indem er immer wieder an Weggabelungen seine Geschichte unwiederholbar zeichnet. Es mag tausende Möglichkeiten für mein Leben gegeben haben, zum Schluss bleibt aber nur ein Weg meines Lebens übrig, meine Lebensgeschichte. Dies gibt jeder Entscheidung meines Lebens ein so großes Gewicht und stellt mit großem Ernst immer wieder die Frage: Welcher Weg ist richtig? Diese Frage ist nicht allgemein zu beantworten. Ob ein Weg richtig oder falsch ist, hängt ab vom Ziel, das wir erreichen wollen.

•    Welches aber ist das Ziel des menschlichen Lebens? Der letzte greif- und fassbare Moment des Lebens ist der Tod, weshalb der Philosoph Martin Heidegger zu Recht schreibt: Der Mensch ist „Sein zum Tode“. Aber was ist der Tod? Der Verfall ins Nichts oder der Durchgang in ein großes, weites Leben? In diesem Punkt ist jeder Mensch ein gläubiger Mensch. Es gibt keine ungläubigen Menschen. Jeder von uns muss hier seine Glaubensentscheidung treffen: für den einen ist der Tod eben das Ende des Lebens, für den anderen der Beginn des Himmels.

Damit wird die Erinnerung an die Ernsthaftigkeit unseres Handelns in der Gegenwart zur Erinnerung an die Zukunft. Was kommt auf uns zu, worauf gehen wir zu? Diese Zukunftsentscheidung prägt den Menschen in seinem gegenwärtigen Handeln. Der Mensch ist seine Zukunft.

Der Mensch hat nicht nur eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, er ist jetzt in der Gegenwart seine Vergangenheit und seine Zukunft. Dies meint die Aussage von der dem Menschen wesentlichen Zeitlichkeit, in der seine Größe sichtbar wird. An diese seine Zeitlichkeit sich zu erinnern, ist der vornehme Weg des Menschen, um groß und würdevoll zu leben.

Wir erinnern uns heute der Zerstörung Dresdens. Wir erinnern uns des Elends des 2. Weltkrieges und der barbarischen Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, die so vielen Millionen Menschen das Leben kostete. Der 70. Gedenktag an die Zerstörung Dresdens wird aber nur dann ein für die Zukunft fruchtbarer sein, wenn wir uns heute erinnern an die Größe und Würde eines jeden Menschen auf dieser Erde. Für seine Würde aufzustehen und sich auf den Weg zu machen ist gerade für uns Christen nicht nur an diesem Tag unsere Pflicht: „Seht, da ist der Mensch!“ (Joh 19,5) (Leitwort des 100. Katholikentags 2016 in Leipzig)

Dresden, den 13.02.2015


+ Dr. Heiner Koch
Bischof von Dresden-Meißen




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