Die Würde und Größe des Menschen

Predigt von Bischof Dr. Heiner Koch im Ökumenischen Gottesdienst anlässl. des G7-Finanzminister-Treffens in Dresden am 27. Mai 2015

Bischof Dr. Heiner Koch
Bischof Dr. Heiner Koch

Was ist der Mensch wert? Was sind wir Menschen wert? Seit Menschengedenken treibt diese Frage die Menschen um, und da es den Menschen nicht gibt, trifft sie existenziell jeden Menschen in seiner ganz einmaligen Lebenssituation: „Was bin ich wert? Was bist du wert?“
Was ist der Mensch wert als Ungeborener am Beginn seines Lebens? Was ist der Mensch wert als Leidender, Behinderter, Sterbender, als Mensch in Armut und Verschuldung? Im Bewusstsein vieler machen wir gravierende Unterschiede in der Bewertung menschlichen Lebens: Ungeborenes Leben ist weitgehend schutzlos ausgeliefert, die Optimierung des Lebens für Schwerkranke bedeutet für viele, ihnen zu helfen, dass ihr Leben ausgelöscht wird. Doch wie gefährlich ist es, wenn wir menschliches Leben klassifizieren und Grenzen des Lebensschutzes einziehen! Menschlicher Willkür ist dann keine Grenze mehr gesetzt.  Wie hoch wird auf der anderen Seite das jugendliche, schöne, sportliche, leistungsstarke und attraktive Leben gehalten. Wehe, wer da nicht mitkommt!

Und doch: Jeder Mensch, auch der in den Augen unserer Gesellschaft leistungsschwache, unattraktive, gebrochene und leidvolle, der schuldige und der in Schuld gestoßene und scheinbar nie mehr aus ihr herauskommende ist ganz einmalig und gerade in seiner Einmaligkeit wertvoll. Unter den 107 Milliarden Menschen, die bisher auf dieser Erde gelebt haben, gibt es jeden nur ein einziges Mal mit seinem Körper, mit seinem Geist, seiner Psyche, seinem Verstand, mit seiner Seele, mit den Menschen an seiner Seite, die ihn prägen und herausfordern, mit der Gesellschaft, in der er lebt, mit der Geschichte, die er prägt, und mit den Aufgaben, die sich ihm stellen. Jeden hat Gott ganz einmalig geschaffen: Du sollst leben, jetzt an diesem Ort, mit deinen Stärken und mit deinen Grenzen. Denn in Gott ist jeder von uns groß und wertvoll, und er bleibt es auch in Krankheit, Leid und Tod.

Dass ist die Botschaft des Propheten Jesaja, die Jesus heute in der Lesung aufgreift und verkündet: Du sollst leben! Es ist wichtig, dass du da bist! In Gott bist und bleibst du groß! Das ist die gute Botschaft Gottes, das Evangelium für jeden von uns: Wir können aufatmen, aufleben: Gott lässt uns nicht fallen, er will dass wir leben, nicht nur irgendwie überleben. Uns wird die Schuld vergeben! Deshalb leben auch wir heute im Sabbatjahr, wir leben auch heute im Jubeljahr, wir leben auch heute im Erlassjahr – so die Botschaft Jesu.

Um Gottes und des Menschen willen dürfen diese Worte nicht die Bezeichnung für längst vergangene Jahre sein. Wenn wir als Christen wirklich daran glauben, dass die Worte des Jesaja seit Christi Kommen in diese Welt erfüllt sind, dann sind diese Worte Maßstäbe für unser Handeln im persönlichen wie im politischen Lebensraum aus der Achtung vor der bleibenden Größe und Würde eines jeden Menschen, wie verschuldet er in den Augen dieser Welt auch sein mag. Ich maße mir nicht an, amtlich von der Kanzel her zu beurteilen und zu belehren, welches die richtigen politischen Maßnahmen sind, um Völker und in ihnen die Menschen vor dauerhafter Verschuldung und Abhängigkeit in der Welt moderner Finanzbeziehungen zu befreien: Wie gehen wir helfend und gerecht mit Privatinsolvenzen um? Wie schaffen wir ein faires und transparentes Staateninsolvenzverfahren? Wie kann es zu einer die Menschen und die Gesellschaft ermutigenden und Eigeninitiative fördernden Streichung untragbarer und oft sogar illegitimer Schulden kommen? Wie kann Hilfe für Einzelne und für Gesellschaften zur Selbsthilfe werden? Wie verhalten wir uns angesichts der Tatsache, dass die Kapitalrendite bei uns immer schneller wächst als das Volks- und Arbeitseinkommen und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht? Wie kann verhindert werden, dass gegebenes Geld in undurchsichtigen Kanälen von Clans versickert und damit den Menschen mit noch so großen Geldsummen nicht geholfen wird? Fragen über Fragen, über die wir diskutieren und streiten müssen. Aber eines muss uns klar sein: Letztlich geht es nicht um ein Finanzsystem, sondern um die Würde und Größe eines jeden Menschen, der nicht leben kann, wenn andere Menschen und Systeme ihn nicht leben lassen, wir ihnen viel schuldig bleiben und wir eigentlich ihre Schuldner sind. Ich zitiere Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ Nr. 53: "Wir müssen nein sagen zu einer Wirtschaft der Ausschließung. Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht Ausgebeutete, sondern Müll, Abfall."



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