Für eine menschenfreundlichere Welt

Predigt von Bischof Heinrich Timmerevers im Ökumenischen Gottesdienst am 03. Oktober 2016 in der Frauenkirche Dresden

Es gilt das gesprochene Wort!



Bischof Heinrich TimmereversLiebe Schwestern und Brüder!

I.
Im Frühjahr 1986 stand ich, 200 Meter von hier entfernt, als junger Priester zusammen mit einigen Priesterkandidaten aus Münster, auf meiner ersten Reise in die DDR vor den Ruinen der Frauenkirche und den Trümmerhaufen übriggebliebener Steine dieser Kirche, die gleichsam auf den Wiederaufbau warteten. Diese Bilder haben sich mir eingeprägt, ich habe sie lebendig vor Augen! Damals habe ich mich gefragt, wird sie je wieder aufgebaut, diese Frauenkirche? Wohl kaum, habe ich gedacht! Noch weniger habe ich mir vorstellen können, dass ich 30 Jahre später – heute – in der wiederaufgebauten Frauenkirche als Bischof des Bistums Dresden-Meißen hier stehen und zu Ihnen sprechen würde!

II.
Liebe Festgemeinde!
Vor 26 Jahren durfte Deutschland im Nachgang der Friedlichen Revolution die Wiedervereinigung nach der leidvollen Teilung vollziehen und feiern. Bis heute bleibt das ein atemberaubendes Ereignis und ein großes Geschenk! Wenn es das nicht gegeben hätte, könnten wir heute diesen Gottesdienst hier nicht feiern!

Das Leben in Freiheit ist ein großes Geschenk! An diesem Tag kann uns das neu bewusst werden. 70% aller Menschen leben heute in Staaten, in denen Religionsfreiheit großen Beschränkungen unterworfen ist. Vielleicht suchen auch deswegen so viele Menschen Schutz und Geborgenheit in Europa. Wir sind dankbar, dass wir unsere Religion, unser Christsein, in diesem Land hier so selbstverständlich leben können. Viele erahnen schon gar nicht mehr, dass dies im weltweiten Maßstab gerade nicht selbstverständlich ist!

Geschenkte Freiheit! Einem Menschen wird etwas geschenkt, was er im Tiefsten seines Herzens erhofft. Er konnte es selbst nicht machen und es fällt ihm überraschend zu! Wer sich unverhofft beschenkt weiß, der wird in seinem Herzen dankbar!

III.
Vor wenigen Tagen bin ich dem Kaplan der Hofkirche begegnet, der am 8. Oktober 1989 an der Demonstration auf der Prager Straße in Dresden teilgenommen hat. Die Volkspolizei hatte am Abend Hunderte Menschen eingekesselt, die auf die durchrollenden Züge der Prager Botschaftsflüchtlinge aufspringen wollten. Er hat mir die Situation geschildert. Zusammen mit einem anderen Kaplan gelang es ihm, aus der Menschenmenge herauszutreten und mit einem Volkspolizisten zu sprechen, der wider aller Erwartung offen war für das Anliegen der Demonstranten. Dieser mutige Schritt der beiden gläubigen Christen, mit dem Vertrauen auf die Mitwirkung Gottes hat das Tor geöffnet für eine friedliche Revolution. Dass die Sehnsucht nach Freiheit sich ohne Blutvergießen eine Bahn brechen konnte, ist ein solches Geschenk, das wir als gläubige Menschen bei all unserem Mühen als Gabe Gottes sehen dürfen. Daher ist es gut, dass wir diesen Feiertag mit einem ökumenischen Dankgottesdienst beginnen.

Beim Wiederaufbau der Frauenkirche wurde unter den Trümmern auch das Kuppel-Kreuz gefunden, das nun hier in der Kirche seinen Platz gefunden hat. Dieses Kreuz ist gezeichnet von der Wucht der Zerstörung, und doch ist es nicht untergegangen! Was für ein Zeichen! Das Kreuz war einst die brutale römische Hinrichtungsmethode. Mit Jesus Christus, der am Kreuz gestorben durch Gottes Macht vom Tode auferstanden ist, wird das Kreuz zu dem christlichen Hoffnungszeichen. Der Gekreuzigte und Auferstandene Herr schenkt uns im größten Leid, in der größten Dunkelheit unseres Daseins eine Hoffnung, die über den Tod hinausreicht. Unter dem Kreuz wurden und werden Menschen aufgerichtet und wagen ihren Weg in eine unbekannte Zukunft.

IV.
Wenn der Christ auf das Kreuz schaut, kann er nie bei sich selbst stehen bleiben. Er ist herausgefordert, helfend und heilend sich dem Menschen zuzuwenden, der in Not ist! Jesus Christus ruft uns, in jedem Notleidenden ihn selbst zu sehen und dem Nächsten konkret zu helfen. Das ist die „horizontale Dimension“ des Kreuzes. Der Dienst der Nächstenliebe von Mensch zu Mensch ist für die Gesellschaft, ist für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums von entscheidender Bedeutung. Überall da, wo der Mensch, der Christ diesem Dienst am Mitmenschen nachkommt, gewinnen wir als Christen Glaubwürdigkeit. Nicht zuletzt deswegen rief Papst Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit aus und unterstreicht so die Notwendigkeit der „horizontalen Dimension“ des Kreuzes.

Barmherzigkeit im Zeichen des Kreuzes gehört zum Fundament des Christentums. Ohne Barmherzigkeit kann es keine wirkliche humane Gesellschaft und keine menschenfreundliche Religion geben.

Wenn wir daher heute dankbar auf 26 Jahre Deutsche Einheit in Freiheit schauen, dann dürfen wir die Barmherzigkeit nicht vergessen, die letztlich unser Land in seinen föderalen und subsidiären Strukturen, in seinen vielfältigen sozialen Sicherungssystemen, in seinen starken Stiftungen, Verbänden und Vereinen, ja letztlich in dem konkreten Tun so vieler Menschen stark gemacht hat. Barmherzigkeit im Zeichen des Kreuzes schafft Frieden!

Was kann uns beständig daran erinnern? Dazu ein Wort in ökumenischer Verbunden-heit mit der „Sprachmusik“ aus Martin Luthers Morgensegen. Vor dem eigentlichen Morgen- und auch Abendsegen gibt uns der Erfurter Mönch und Wittenberger Theologe einen einfachen und dennoch immer wieder vergessenen Hinweis: „Des Morgens, wenn du aus dem Bette fährst, sollst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes.“

Liebe Schwestern und Brüder, ich lade Sie ein, sich täglich mit dem Zeichen des Kreuzes zu segnen, indem wir es unserem immer wieder ermüdeten und resignierten Dasein von der Stirn bis zur Brust, von einer Schulter zur anderen tatsächlich einzeichnen. Mit der Hoffnung auf Gottes Beistand geben wir unseren Beitrag zu einer menschenfreundlicheren Welt.


Unter www.zdf.de ist die Aufzeichnung des Ökumenischen Gottesdienstes ca. 9 Monate lang abzurufen.



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