Freiheitsliebende Mutmacher

Weihnachtsbotschaft 2017 des Bischofs von Dresden-Meißen

Bischof Heinrich Timmerevers












Mitten ins Herz traf mich in den vergangenen Tagen die Frage einer Tageszeitung, ob Sachsen das Bundesland der Egoisten sei. Hintergrund war die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie „Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017“, bei der das Bundesland auf dem letzten Platz landete. Thüringen nur kurz davor.

Es traf mich, weil ich in den vergangenen anderthalb Jahren, die ich im Freistaat lebe, ganz andere Erfahrungen mache. Freundlich und herzlich, auch glücklich über das Geschaffene sind die Menschen. Wenn sie in Gera, Grimma, Glauchau oder Kamenz von ihrem Mut gegen die Entwürdigungen der Diktaturen und die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Veränderung sprechen, merke ich, wie ich mich am liebsten demütig vor ihrer Lebensleistung verneigen möchte. Nein, ich erlebte bisher kein Land der Egoisten.

Und doch gibt es bei vielen Menschen in unserer Region eine Einstellung, die mich beschäftigt, weil sie sich Bahnen bricht und unsere Gesellschaft fast unbemerkt verändert. Ist es Resignation, weil viele sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr Freiheit und eigene Gestaltungsmöglichkeiten erhofft haben, als sie letztlich erfuhren? Ist es die Angst angesichts einer ungewissen Zukunft? Immerhin nivelliert Globalisierung Grenzen, beschränkt Digitalisierung die Autonomie und Mobilisierung beschleunigt das Leben. Oder ist es die Sehnsucht nach Halt und wirklicher Heimat, weil der Boden unter den Füßen in den letzten Jahren weggezogen wurde und nicht mehr klar scheint, was uns als Gesellschaft wirklich zusammenhält?

Revolution statt Resignation

Diese Fragen beschäftigen mich, besonders an diesem Weihnachtsfest. Natürlich weiß ich, dass das Wunder der Heiligen Nacht keine einfach anzuwendende Bedienungsanleitung bietet, um genau diese Fragen zu lösen. Aber als Christ und Bischof habe ich die Gewissheit, dass es eine zentrale Botschaft enthält, die zu einer entscheidenden Haltung unseres Lebens werden kann: Mach’s wie Gott, werde Mensch.

Dieser Gedanke setzt meine Überzeugung als Christ voraus: In Jesus wird Gott zum Menschen. Nackt und schutzlos in der Krippe gibt er sich in die Hand von Menschen, ausgeliefert, ohne hilflos zu sein, wird er von Menschen ans Kreuz genagelt. Das ist radikal und revolutionär. Die Größe Gottes, an den Juden und Christen glauben, wird fassbar in seiner Kleinheit. Er nimmt Freude und Not des Menschseins auf sich, von der Geburt bis zum Tod. Gott lässt nichts aus, aber er lässt alles zu.

Ich bin davon überzeugt, dass ihm nichts Menschliches fremd ist und er deshalb in allen Momenten des Lebens an unserer Seite bleibt. Darin gründet die radikale Liebe Gottes zum Menschen. Diese christliche Botschaft ist für mich unglaublich schön. Weil sie die Realität des Lebens ernst nimmt, zum Äußersten herausfordert und damit die pure Romantik der Liebe übersteigt.

Die Freiheit wagen

Wenn Weihnachten nun aber uns auffordert, wie Gott Mensch zu werden, dann ist es der Aufruf zu dieser radikalen Revolution. Nicht, weil uns die Hölle droht oder unser Handeln Dankbarkeit erwarten lässt, sondern weil wir radikal und ohne jeden Eigennutz die Menschen lieben wollen, werden wir zu weihnachtlichen Zeugen der Liebe. Dies ist keinesfalls lediglich eine Botschaft für Christen, sondern für alle Menschen guten Willens. Daraus ergibt sich die Frage: Sind Sie und ich bereit, uns klein zu machen und – in aller Freiheit – zugunsten anderer im Ernstfall auf alles zu verzichten?

Es ist die Freiheit, die uns zur Entscheidung drängt. Und es ist die Freiheit, in der Verantwortung sich verwirklicht. Ich wünsche unserer Gesellschaft eine innere Bereitschaft, Mensch zu werden, indem die innere Freiheit einen verantwortlichen Umgang mit uns selbst und mit den Menschen ermöglicht.

Wenn tatsächlich Resignation, Angst und Sehnsucht nach Halt unser Land lähmen, dann braucht unser Freistaat gerade jetzt einen Ruck. Nicht nur ein Kabinettswechsel, sondern die Botschaft von Weihnachten kann für unser Miteinander zum entscheidenden Moment werden, kluges, gerechtes, tapferes und maßvolles, aber auch barmherziges Handeln in den Mittelpunkt zu rücken. Schauen Sie mit diesen Tugenden auf Ihr Leben und auf jene, für die Sie verantwortlich sind! Diesen Blick wünsche ich ebenso den Familien und Politikern in unserem Land als auch den Verantwortlichen in Unternehmen wie Siemens, die über die Zukunft von Menschen entscheiden.

Prüfsteine für unser Miteinander

Dies beginnt aber bereits in der Familie. Unser Zusammenleben im Kleinen prägt das Miteinander im Großen. ‚Darf ich?‘, ‚danke‘ und ‚entschuldige‘ müssen die entscheidenden drei Worte in Familien werden, forderte Papst Franziskus kürzlich zu Recht. Weihnachten fordert aber auch dazu auf, den Wert der Familie in der Gesellschaft zu überdenken. Immerhin war die Krippe nicht das Luxushotel der Antike, sondern letzter Zufluchtsort einer verzweifelten Familie, weil die Gesellschaft ihr keinen anderen Ort mehr bot. Ich frage mich, wie es uns heute gelingen kann, jeden dabei zu unterstützen, als Familie zu leben?

Natürlich gehört für mich die Beziehung zwischen Mann und Frau und die daraus entstehenden Kinder zum Nukleus gesellschaftlicher Zukunft. Es darf keine Floskel bleiben, zu überlegen, wie man sie am besten fördert. Der derzeit politisch viel diskutierte Familiennachzug wird hierbei zu einem Prüfstein, der unseren verantwortlichen Blick für den Wert von funktionierenden Familien über den nationalen Tellerrand hinaus fordert.

Aber wir sind – auch als Kirchen – gefragt, wie wir Menschen in Patchwork-Familien, alleinerziehenden Haushalten und homosexuellen Verbindungen nicht in die Krippe abschieben, sondern eine Heimat bieten, die ihrer Würde als Menschen gerecht wird. Die Botschaft Gottes ist: Ich lasse keinen Menschen allein. Egal, in welcher Situation er lebt. Diese ganz einfache Botschaft kann man nicht oft genug wiederholen.

Fundamente für die Zukunft gemeinsam bauen

Sie gilt aber nicht nur für unser Land, sondern auf allen Kontinenten. Wen der Bettler vor dem Dresdner Rathaus ebenso kalt lässt wie beispielsweise der Terror in Pakistan, der Hunger in Zentralafrika und die Vernichtung von Lebensraum in Brasilien, kann die Weihnachtsgeschenke wieder zurückbringen, weil er den Sinn des Festes nicht verstanden hat. Mir geht es nicht um Spenden zur Beruhigung des Gewissens, sondern um eine Revolution der Liebe. Denn die Realitäten der Welt sind nicht unveränderlich. Leben wir die Freiheit, um eine heilsame Unruhe des Aufbruchs und des Miteinanders auszulösen, die die Resignation zur Zuversicht verwandelt. Werden Sie zum Mutmacher! Wir brauchen eine Kultur, die die Freiheit liebt und Verantwortung für das Leben übernimmt. Dies geht nicht ohne Gott. Und dies geht nicht ohne Sie. Davon bin ich überzeugt. Gern wiederhole ich hierfür die Aufforderung von Papst Franziskus: „Mischt euch ein!“

Keine Politik, keine Gesellschaft und keine Familie kann in die Zukunft gehen, wenn es nicht Menschen gibt, die Probleme lösen wollen. Es braucht Engagement, das Kreisen um Einzelinteressen zu durchbrechen und den Zusammenhalt zu suchen.

Die Weihnachtsbotschaft reißt von den Sofas, weil sie der Anstoß für ein friedliches, barmherziges und hoffnungsvolles Miteinander sein will. Ungerechtigkeit muss benannt werden, ohne Hass zu schüren. Debatten brauchen wir, ohne den anderen in seiner Würde zu verletzten.
Angesichts der dafür notwendigen Tugenden bin ich dankbar, dass die politische Bildung in unserem Land an Bedeutung gewinnt. Wahrscheinlich wird es nicht reichen. Doch braucht nicht Mut auch ein Fundament der Herzensbildung und des gesunden Menschenverstands? Als Christen sind wir gern bereit, in der pluralen Gesellschaft unseren Beitrag hierfür zu leisten. Weihnachten motiviert uns dazu.

Mutmacher für Sie

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit der Botschaft von Weihnachten zuversichtlich in das neue Jahr gehen – in eine Welt, die auch 2018 nicht ohne Sorgen sein wird. Gern begleite ich Sie dabei. Denn ich möchte mit Ihnen Mensch und für Sie Christ sein. Schreiben Sie mir, was Sie hoffnungslos macht und was Sie sorgt (2018@bistum-dresden-meissen.de). Erwarten Sie von mir keine Wunder. Aber wo die Not die Menschen lähmt, möchte ich meine Stimme erheben und, wo es möglich ist, die Suche nach gesellschaftlichen Lösungen unterstützen. Als Christ trägt mich dabei die Hoffnung, dass es sich lohnt, dem Leben zu trauen, weil Gott es mit uns lebt. Lassen Sie uns in diesem Vertrauen gemeinsam freiheitsliebende Mutmacher sein!

Bischof Heinrich Timmerevers



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