"als wertvoll schätzen, was uns heute im Frieden geschenkt ist"

Bischof Heinrich Timmerevers im Gedenkgottesdienst am 13. Februar in Dresden

Menschenkette am 13. Februar 2018
Mehr als 11.000 Menschen bildeten am 13. Februar 2018 abends eine Menschenkette rund um die Innenstadt. Als um 18 Uhr die Glocken läuteten, reichten sie sich schweigend die Hand und setzten damit ein Zeichen des Friedens.

Zu den zahlreichen Gedenkveranstaltungen 73 Jahre nach der Zerstörung Dresdens in Bombenhagel und Feuersturm zählte gestern, am 13. Februar 2018, auch ein Gedenkgottesdienst mit Bischof Heinrich Timmerevers in der Kathedrale – direkt im Anschluss an die Menschenkette. Seine Predigt hier im Wortlaut:

Bischof Heinrich TimmereversLiebe Schwestern und Brüder!

Wer nach Dresden kommt, wer hier lebt und wer diese Stadt lieben gelernt hat, kommt an einem Datum nicht vorbei: Im grell leuchtenden Feuersturm der Nacht des 13. Februar 1945 – entfacht vom Bombenhagel – erlebte diese Stadt den wohl dunkelsten Moment ihrer Geschichte.

Wer heute, 73 Jahre nach diesem dunkelsten Moment, die Stadt Dresden besucht, ist berührt von ihrer architektonischen Schönheit, ihrem kulturellen Leben und ihrem vielfältigen Charakter. Wer die Stadt Dresden besucht, nimmt sich gerne ein Souvenir mit nach Hause, ein Stück Erinnerung an seinen Aufenthalt und die damit verbundenen Eindrücke.

Souvenir heißt: unter ein Erleben, unter ein Geschehen kommen

Das Wort Souvenir stammt aus dem Französischen und wird mit Erinnerung übersetzt. Wenn wir dieses Wort von seinem Ursprung her wortwörtlich übertragen, stoßen wir auf eine tiefere Dimension als wir sie mit dem Wort Erinnerung für gewöhnlich beschreiben: Souvenir meint: unter ein Erleben, unter ein Geschehen kommen. Das ist weitaus mehr als nur Erinnerung. Unter ein Geschehen kommen heißt, sich mit seinen Gedanken und Gefühlen in dieses hinein zu geben, um es erneut zu erahnen, zu erspüren und zu begreifen.

Den 13. Februar im Sinne der tiefen, wortwörtlichen Bedeutung von „souvenir“ zu begehen hieße, unter das Geschehen der Zerstörung Dresdens zu kommen. Wie kann das gehen? Das Leid, der Tod vieler tausender Menschen und die Bilder der Verwüstung und Zerstörung sind unfassbar, sie sind erst recht nicht verstehbar. Das Schicksal Dresdens steht exemplarisch für militärische Gewalt gegen die zivile Bevölkerung und für die Vernichtung kultureller Werte.

Dresden war gegen Ende des 2. Weltkriegs der Zufluchtsort für Flüchtlinge. Viele Vertriebene und Ausgebombte kamen in der Hoffnung nach Dresden, hier sicher zu sein. Für die meisten galt es als unvorstellbar, dass diese Stadt bombardiert würde, auch wenn es bereits 1944 vereinzelt Bombenangriffe auf Dresden gegeben hatte. Nein, verstehen und begreifen lassen sich die Geschehnisse des 13. Februars 1945 nicht. Es kommen und bleiben viele Fragen, die für viele Menschen, auch für mich persönlich, immer wieder in ein tiefes Schweigen münden.

Unter das Geschehen des 13. Februars zu kommen, bedeutet zuerst: im Schweigen der Toten zu gedenken, die jene Winternacht zurückgelassen hat. Eine unfassbare Vielzahl der Leichen musste auf dem Altmarkt verbrannt werden, weil man sie nicht richtig begraben konnte. Und viele Verletzte, die aus den Flammen und Trümmern geborgen wurden, fanden in den darauf folgenden Tagen den Tod. Im stillen Gedenken wollen wir den Verstorbenen vor allem eines bezeugen – die Würde, die einem jeden Menschen zukommt. Wenn ihnen diese Würde nicht in einer Bestattung zuteil werden konnte, so doch durch unser aufrichtiges Gedenken.

Unter das Geschehen des 13. Februars zu kommen, bedeutet: das Vergangene nicht ins Vergessen absinken zu lassen. Wenn die letzten Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben erzählen können, immer weniger werden, wollen wir das, was sie in ihrem Erzählen an uns, an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben haben, als Band zwischen Lebenden und Toten in uns und unter uns gegenwärtig halten. Es ist hilfreich, dass es in dieser Stadt Orte gibt, die das Vergangene in Erinnerung rufen; suchen wir diese Orte immer wieder bewusst auf, damit wir nicht vergessen.

Unter das Geschehen des 13. Februars zu kommen, führt mich schließlich zu der Frage: Welche Zukunft hat die Vergangenheit? Der österreichische Autor Peter Handke hat in seinen Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ eine treffende Redewendung gefunden, wenn er von der Gesellschaft mit den Toten als dem achten Sakrament spricht. Was ist damit gemeint? Die Verstorbenen sollten nicht nur einen Platz in unserer Erinnerung haben, sondern auch einen Raum im Gebet der Gegenwart und eine Stimme im Denken für unsere Zukunft.

Die Bilder der Trümmer und der Verwüstung sollten im Gedächtnis unserer Gesellschaft Wohnung finden. Dies kann uns vor Gleichgültigkeit bewahren und uns lehren, das als wertvoll zu schätzen, was uns heute im Frieden geschenkt ist. Wer nicht vermag, unter das Vergangene zu kommen, wird das Gegenwärtige nicht zu schätzen wissen und für eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft nicht reif sein.

Der 13. Februar – für Dresden die Nacht zum Aschermittwoch

Unser heutiges Gedenken hat etwas mit dem 13. Februar 1945 gemeinsam: Wie der heutige Tag war der 13. Februar 1945 ein Fastnacht-Dienstag. Das heißt, die Stadt Dresden wurde in einer Nacht zum Aschermittwoch in Schutt und Asche gelegt. Der Aschermittwoch 1945 ist somit zum Aschermittwoch Dresdens geworden.

Noch am Tag des 13. Februar 1945 hatte der damalige Propst der Hofkirche Wilhelm Beier im Gottesdienst gebetet: „… Nimm mich und alle, die hier versammelt sind, die ganze Gemeinde, und wende das Unglück der Tage …“ Als wenige Stunden später die beiden Bombenangriffe über Dresden vorbei sind, ist Propst Beier nicht mehr am Leben. Seine Gemeinde, die vor dem Krieg noch 10.000 Mitglieder hatte, zählt am Aschermittwoch Dresdens nur noch 300. Die Kirche ist zerstört. Im Innenraum liegt ein riesiger Schuttkegel.

Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Das ist die Zeit im Kirchenjahr, in der sich die Christen – in Vorbereitung auf Ostern – in besonderer und stiller Weise auf die Suche nach Gott begeben. Sie fragen danach, welche Abschnitte ihres Weges zu Gott verschüttet sind, wie sie im Strudel ihres Lebens neu Orientierung finden können und wo Gottes Wirken für sie heilsam sein kann.

An jenem Aschermittwoch 1945 wird dieses Suchen und Fragen nach Gott in Dresden ungleich härtere, existenziellere und verzweifeltere Züge bekommen haben als zuvor. Überlebende der Nacht, in der mit dem Feuersturm der Tod durch die Stadt fegte, werden die Fragen gestellt haben: Wo war Gott? Kann es Gott überhaupt geben, wenn er dieses Inferno zulässt? Wo ist Gott jetzt? Es sind Fragen, die im Angesicht des Krieges und des menschlichen Leids immer wieder gestellt wurden und werden. Es sind Fragen, die ihren Sitz im Leben des Gottesvolkes haben. Es sind Fragen, die auf der Suche nach Gott dazu¬gehören und von daher auch ihre Berechtigung haben.

Antworten auf diese Fragen, die uns allein nach menschlichem Ermessen zufrieden stellen könnten, wird es nicht geben. Über die Trauer und das Schweigen hinaus kann nur eine Antwort aus dem Glauben heraus gesucht werden. Als Christ darf ich darauf vertrauen und bekennen:

GOTT will uns in jeder Situation unseres Lebens nahe sein, und ER war auch den Menschen nah, die das Bombardement des 13. Februars erlitten. ER litt mit ihnen, ER ängstigte sich um sie, er teilte ihre Verzweiflung. Die christliche Botschaft sagt uns: GOTT liebt die Menschen so sehr, dass ER sich ganz an ihre Seite stellt – nicht nur in Zeiten des Wohlergehens, sondern gerade in Zeiten des Leidens und Sterbens.

Wie sehr Gott mit den Menschen leidet und an ihrer Verzweiflung Anteil nimmt, zeigt uns der Kreuzestod Christi. Jesus stößt am Kreuz einen Schrei der Verzweiflung aus, indem er mit den Worten des Psalms 22 ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, …?“ Wenn wir den Psalm 22 weiterbeten, werden wir erfahren, wie die Klage aus Gottverlassenheit übergeht in ein Vertrauen an die Heilszusage Gottes.

Die Antwort des Paulus: Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?

Eine Antwort aus tiefem Glauben heraus hat auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom gegeben, aus dem wir die heutige Lesung gehört haben. Paulus, der auf den Wegen seiner Verkündigung selbst häufig in Not und Bedrängnis verschiedenster Art geraten ist und schließlich hingerichtet wurde, schreibt: "Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist."

Diese Antwort des Paulus auf den Aschermittwoch von Dresden gewendet würde lauten: Weder der tödliche Feuersturm in der Nacht des 13. Februars 1945, noch die Verzweiflung, die dieser in den noch Lebenden hinterlassen hat, nicht das, worunter wir jetzt leiden mögen und nicht das, was noch kommen mag, können Gott davon abhalten, sich uns zuzuwenden und uns in seinem Sohn Jesus Christus neues Leben zuteil werden zu lassen.

Unter das Geschehen des 13. Februars zu kommen, kann in diesem Sinne auch bedeuten, sich – ausgehend vom Aschermittwoch Dresdens – neu auf die Suche nach Gott zu begeben. Dabei dürfen wir darauf hoffen und vertrauen, dass auch ER uns sucht.

Ja, ER ist uns ganz nah. Amen!



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