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Bistum Dresden Meissen
Die St. Georg-Kirche in Heidenau. © Michael Baudisch
17. September 2021

Wenn das Leben zu Eis gefriert

Aufarbeitungsabend in der Gemeinde Heidenau stellt Erlebnisse von Missbrauchs-Betroffener in den Mittelpunkt

Heidenau. Ein öffentlicher Aufarbeitungsabend der katholischen Gemeinde Heidenau zu den Missbrauchstaten von Pfarrer Herbert Jungnitsch (1898 – 1971) hat am 16. September 2021 in der Aula des Heidenauer Pestalozzi-Gymnasiums stattgefunden. Als Gesprächspartner nahmen an dem Abend teil: Christina Meinel als Vertreterin der Betroffenen; Pfarrer Vinzenz Brendler und Gemeindereferent Benno Kirtzel (Präventionsfachkraft der Pfarrei vor Ort) als Verantwortliche der Pfarrei; Heike Mann, sie berät die Gemeinde als externe Moderatorin und führte auch durch den Abend (Mitarbeiterin bei „Shukura“, einer AWO-Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche).

Daneben nahmen als Vertreter des Bistums Bischof Heinrich Timmerevers, Generalvikar Andreas Kutschke und Justitiar Stephan von Spies teil. Der Justitiar ist als Bischöflich Beauftragter mit der Untersuchung von Missbrauchsfällen im Bistum Dresden-Meißen befasst. 

Hinweis:

Das Bistum ruft dazu auf, dass sich Betroffene sexuellen Missbrauchs melden. Dies kann in unterschiedlicher Form geschehen, auch externe Ansprechpersonen stehen dazu zur Verfügung:

www.bistum-dresden-meissen.de/praevention

 

MB

Die Inhalte des Aufarbeitungs-Abends - hier klicken:

Die Hintergründe des Abends

Von 1948 bis zu seinem Tod 1971 war Pfarrer Jungnitsch in Heidenau eingesetzt. Aus dieser Zeit sind heute Fälle sexualisierter und körperlicher Gewalt an mindestens vier Kindern bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch glaubhaft bekannt. Die noch lebenden Betroffenen leiden bis heute unter den Folgen.

Seit 2020 läuft in Heidenau ein Aufarbeitungsprozess, der zusätzlich zur juristischen Aufarbeitung durch das Bistum die Gemeinde- und Pfarreistrukturen damals und heute in den Blick nimmt. So soll ein umfassenderes Verständnis der Tatkontexte entstehen, um Zusammenhänge zu identifizieren, die den Missbrauch ermöglicht haben. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in die aktuelle Präventionsarbeit einfließen.

 

Aufarbeitungsschritte in der Gemeinde

In seiner Begrüßung zum Abend schilderte Pfarrer Vinzenz Brendler ein häufiges Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der aufzuarbeitenden Ereignisse. Gemeindereferent Beno Kirtzel bedauerte, dass Corona-bedingt zwischen der ersten Ankündigung der Veranstaltung und der letztlich möglichen Durchführung eine so lange Zeitspanne entstanden sei. Kirtzel: „Heute ist aber nicht die letzte Möglichkeit, zuzuhören und sich zu äußern.“

Der Gemeindereferent kündigte zugleich an, die nächsten Formate sollten kleiner und stärker an der Gemeindeebene orientiert sein. Nachdenken und Konfrontation sollten dabei „in geschütztem Rahmen“ möglich sein. Wichtigstes Anliegen des Abends aus seiner Sicht: „Jeder kann sehen: Die Betroffenen sind glaubhaft, und deren Geschichten und Bedürfnisse sollen unsere erste Priorität sein.“ Zugleich wünschte er sich die Möglichkeit zur Gerechtigkeit für die Betroffenen und die Solidarität der Heidenauer Gemeinde.

 

Der Bericht einer Betroffenen

Christina Meinel berichtete beim Aufarbeitungsabend von selbst erlittenem Missbrauch in der Pfarrei Heidenau. Sie schilderte, dass sie die Heidenauer Gemeinde als junges Mädchen zunächst als „Heimat und Zuhause“ erfahren habe. Jeden Sonntag sei sie mit ihren Eltern in den morgendlichen Gottesdienst und zur Abendandacht in die Kirche gegangen. Lange Zeit habe sie als junges Mädchen sogar mit dem Gedanken gespielt, ins Kloster zu gehen. Sie sagt: „Ich verehrte Pfarrer Jungnitsch, wie alle, die ich kannte.“ So nahm sie – ein schüchternes Kind, wie sich Christina Meinel rückblickend schildert – selbst in den Ferien bereitwillig an der Frühmesse teil.

Die Erinnerungen an sexuelle Gewalt durch den Pfarrer und den eigenen Vater verdrängte sie lange. Doch die Taten überschatteten ihr Leben. „Die Gefühle vereisen. Ich musste meine Gefühle einfrieren, um weiterleben zu können.“ Ob beruflich, in der Familie, im Umgang mit den eigenen Kindern – Christina Meinel schildert, wie die tiefen selbst erfahrenen Verletzungen ihr eigenes weiteres Leben immer wieder beeinflussten. Der Alltag wurde zu einem einzigen „Überlebenskampf“.

Schließlich berichtet sie auch davon, wie sie erstmals gemeinsam mit weiteren Betroffenen gegenüber kirchlichen Verantwortlichen von ihren Erfahrungen sprechen konnte, in einem Treffen mit Bischof Reinelt 2010. „Wir hatten das Gefühl, dass er uns glaubt. Ich ging in Hochstimmung nach Hause.“ Die Hoffnung, dass der Bischof in der Gemeinde in Heidenau sprechen würde, habe sich allerdings nicht erfüllt. Zwar habe Bischof Reinelt öffentlich in den Medien im Sommer 2010 die Missbrauchstaten bestätigt und sich entschuldigt. Doch mit den kirchlichen Aufarbeitungsbemühungen seither ist Christina Meinel unzufrieden. Und sie hofft auf eine stärkere Aufarbeitung in der Gemeinde.

Nach der Anerkennung der kriminellen Taten, die geschehen seien, müssten die Ereignisse auch vor Ort im Leben der Gemeinde eingeordnet werden. „Lasst uns jetzt den nächsten Schritt gehen, der ist verdammt schwer“, so Meinel, die sich einen Austausch in der Gemeinde, Gespräche und das Zulassen aller Fragen und Meinungen wünscht. Sie selbst sei weiterhin gerne bereit, dazu ins Gespräch und in Kontakt zu kommen.

 

Hinweise der Fachexpertin an die Gemeinde

Heike Mann, AWO-Expertin zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt, führte als Moderatorin durch den Abend. Sie stellte Strategien von Täterinnen und Tätern – insbesondere innerhalb von Institutionen vor – und erläuterte die Folgen für Betroffene. Mit Blick auf die Frage, wie Opfer Unterstützung erfahren können, nannte sie „Menschen, die Institutionen vertreten, in denen sexualisierte Gewalt verübt wurde, die das Leid der Betroffenen anerkennen, sich klar auf die Seite der Betroffenen stellen und Täter oder Täterinnen in Verantwortung nehmen“. Zugleich gelte es, Verantwortung zu übernehmen für die Ursachen der sexualisierten Gewalt, die in der Kultur und Struktur verankert seien, und entsprechende Veränderungen umzusetzen. Dem Schutz anvertrauter Menschen müsse oberste Priorität eingeräumt werden.

 

Ziel der Aufarbeitung

Zu einer häufig geäußerten Frage, wann die Aufarbeitung beendet sei, sagte Benno Kirtzel: „Wahrscheinlich nie, es bleibt Teil unserer Gemeinde.“ Ein Zielpunkt könne es sein, die Sichtweisen der Vergangenheit zu integrieren. Manche Gemeindemitglieder erinnerten sich an eine gute Kindheit und Jugendzeit in der Kirchengemeinde, ohne von den Ereignissen direkt berührt worden zu sein.

Manches Gemeindemitglied habe auch von Hilfsleistungen Jungnitschs nach dem Krieg materiell und seelisch profitiert. Gleichzeitig hätten „zur selben Zeit und am gleichen Ort unfassbare Verbrechen stattgefunden“, so Kirtzel. „Beides zusammen ist unsere Geschichte. Wir müssen das Dunkle nicht mehr wegschieben, um es als unsere persönliche und unsere Gemeindegeschichte zu erinnern.“

 

Die Reaktion der Bistumsleitung

Bischof Timmerevers und Generalvikar Kutschke dankten der Betroffenen ausdrücklich „für ihren Mut, hier zu sprechen“ und baten im Namen der Kirche um Entschuldigung für das erlittene Leid. Bischof Timmerevers sagte: „Ich bitte um Entschuldigung, was ihnen und anderen geschehen ist, ist etwas so Grausames, das ich mir nie hätte vorstellen können.“

Generalvikar Kutschke nannte den Aufarbeitungsabend einen Lernprozess. „Wir sehen, wie wichtig das ist.“ Für die Institution sei der Umgang mit den Taten nicht leicht. „Lernprozesse brauchen Zeit. Mir ist klar, dass das für Betroffene oft schwer erträglich ist.“ Die Taten nannte der Generalvikar „Verbrechen, die im Bistum verübt wurden“, und die insbesondere für ihn als Vertreter der Kirche und als Priester schmerzhaft seien. Ziel müsse es sein, das Geschehene anzuerkennen, die Sprachlosigkeit zu überwinden und Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen. So könne der Umgang der Gemeinde Heidenau mit dem Thema zu einem „Pilotprojekt“ in diesem Bereich werden.

 

Prävention auf Gemeindeebene

Ein Institutionelles Schutzkonzept, das alle Präventionsbemühungen auf Pfarreiebene bündelt, ist in einer ersten Fassung vorhanden. Es deckt grundsätzliche Basisrichtlinien vor allem in den laufenden Projekten ab und setzt gesetzliche Vorgaben um. In den kommenden Monaten soll aber noch weiter daran gearbeitet werde. Eine Endfassung soll im Februar 2022 in Kraft gesetzt werden.

 

Fakten zum Missbrauchsfall Jungnitsch

Die Faktenlage zum Missbrauchsfall Jungnitsch stellte Justitiar Stephan von Spies dar. Seit 2015 ist er verantwortlich für die Intervention beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen. Auch bei der Bearbeitung von Jahrzehnte zurückliegenden Fällen stellt der Bistumsbeauftragte fest: „So alt sind diese ‚Altfälle‘ nicht. Zwar liegen die Taten oft schon sehr lang zurück. Aber sie wirken immer noch, auch nach 50 Jahren. Insofern sind sie und das Trauma bei den uns bekannten Betroffenen noch sehr aktuell, auch wenn eine Intervention mitunter nicht mehr möglich ist.“

Mit Blick auf die bekannten Tatsachen zur Gemeinde Heidenau schilderte v. Spies, dass Herbert Jungnitsch in Heidenau von 1948 bis 1971 als Priester tätig war. Bezüglich der Missbrauchstaten sprach der Bistumsverantwortliche von „Verbrechen“ und „schwerster sexueller Gewalt“, dabei sei es auch zur Verbindung mit rituellem Kontext gekommen. Angezeigt wurden Taten aus den Zeitraum von etwa 1964 bis 1968. Die Lage davor und danach sei im Bischöflichen Ordinariat unbekannt.

Die Taten hätten wiederholt stattgefunden, teilweise mit mehreren Tätern. Mittäter hätten auch aus dem familiären Umfeld der Opfer gestammt. Mehrfach bezeugt ist, dass Jungnitsch Haupttäter gewesen sei. Mehrere Männer im Alter von 20 bis 70 Jahre seien wechselnd als Mittäter – etwa Zuschauer, Fotografen oder Aufpasser – beteiligt gewesen und von Betroffenen in deren Aussagen überwiegend als Gemeindemitglieder eingeordnet worden. Die Täter seien alle männlich gewesen. Es wurde aber die Ansicht geäußert, die Ehefrauen müssten Kenntnis gehabt haben. Die weiteren Täter wurden dem Bistum nicht namentlich genannt.

Die Opfer waren jeweils minderjährige Mädchen ab etwa 4 bis 8 Jahren. Andere, vermutlich jugendliche Opfer, seien zu sexuellen Handlungen genötigt worden, so hätten zwei Betroffene ausgesagt. Von weiteren Betroffenen ist auszugehen. Mehrfach sei ausgesagt worden, einige Taten hätten vor Gruppen von Kindern stattgefunden. Die Taten fanden in Räumlichkeiten der Pfarrei sowie in Privaträumen statt. Die Taten sollten durch Verwendung religiöser Symbole und liturgischer Geräte durch die Täter einen religiösen Anstrich bekommen haben.

 

Das Bekanntwerden des Falls im Bistum

Ein erster Hinweis auf Missbrauchsfälle in Heidenau sei laut Bistumsjustitiar v. Spies „verwirrend“ gewesen. Der Wiener Kardinal Groër, der sich zu Beginn der 2000er Jahre „wegen Missbrauchsvorwürfen gegen seine Person" eine Zeitlang nahe Dresden aufgehalten habe, soll während seines Aufenthaltes einen Brief bekommen haben, der auf den Sachverhalt in Heidenau erstmals hingewiesen habe. Von diesem Brief habe Groër dem damaligen Bischof Joachim Reinelt berichtet. Der habe zunächst nichts mit dieser Information anfangen können, habe allerdings später den Auftrag erteilt, sich vor Ort zu erkundigen, ob es Vorwürfe oder Hinweise dazu gebe. „Bei diesen Nachfragen vor Ort gab es keine Hinweise“, so Ordinariatsrat v. Spies.

Erst später habe sich eine erste Betroffene bei Bischof Reinelt gemeldet. Im Jahr 2010/11 seien insgesamt vier Betroffene bei ihm gewesen und hätten von ihren Torturen berichtet.

 

Untersuchungen zu Pfarrer Jungnitsch

Herbert Jungnitsch wurde am 14. Februar 1971 in Heidenau auf dem Weg zum Briefkasten von einem Motorradfahrer angefahren und schwer verletzt. Er starb an den Folgen dieses Zusammenstoßes mit Unfallflucht einen Tag später. „Es ging das Gerücht um, dies sei kein Unfall gewesen, sondern eine vorsätzliche Tat“, so Stephan v. Spies, der zugleich erklärte: „Dazu kann von uns letztlich nichts gesagt werden. Es gibt bei den Strafverfolgungsbehörden keine Unterlagen mehr, und auch im Stasi-Unterlagenarchiv sind keine Unterlagen zur Person Jungnitsch auffindbar gewesen.“ Beerdigt wurde der Gemeindepfarrer in Heidenau.

Da der beschuldigte Haupttäter tot war, wurde mit Bekanntwerden des Falls ein kirchenrechtliches oder weltrechtliches Strafverfahren nie eröffnet. Zu möglichen Mittätern sei in den Akten der Stasi-Unterlagenbehörde recherchiert worden – allerdings ohne Ergebnis. „Die Fälle wurden 2018 allerdings an die General-Staatsanwaltschaft übergeben mit dem Ziel zu prüfen, ob Ansätze für weitere Ermittlungen gegeben sind“, so v. Spies. Es seien daraufhin allerdings keine weiteren Ermittlungen aufgenommen worden.

2021 seien dem Bistum aus Presseanfragen Namen möglicher Mittäter bekannt geworden. Von Spies: „Diese Namen haben wir der Staatsanwaltschaft mitgeteilt.“ Weitere Verfahren wurden auch in der Folge darauf seitens der Staatsanwaltschaft jedoch nicht eröffnet.

 

Präventionsarbeit im Bistum

Die Präventionsstelle koordiniert Schulungen und Fortbildungen der Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt im Bistum Dresden-Meißen. Präventionsbeauftragte Julia Eckert: „Aktuell hat die Prüfung der eingereichten Schutzkonzepte eine hohe Priorität. Die Präventionsstelle unterstützt die katholischen Einrichtungen bei der Weiterarbeit daran und führt Beratungen durch.“

Auch Präventionsfachkräfte katholischer Einrichtungen werden durch die Präventionsstelle des Bistums ausgebildet. Durch regelmäßigen Austausch und Hilfsangebote werden die Fachkräfte in ihrer Arbeit vor Ort unterstützt. Die Ausbildung, Begleitung und Fortbildung von weiteren Schulungsreferenten gehört ebenfalls zu den Aufgaben der Präventionsbeauftragten des Bistums.

Julia Eckert: „Nach der Corona-bedingten Pause können nun auch wieder Präventionsprojekte wie der Stark-Mach-Tag bei der Präventionsstelle angefragt und vor Ort in den Pfarreien durchgeführt werden.“ Gemeinsam mit dem Fachbereich Kinder- und Jugend sowie mit der Schulabteilung arbeitet die Präventionsbeauftragte aktuell an der Konzipierung eines Stark-Mach-Tages für den Einsatz in Schulen. Das Pilotprojekt wird im ersten Halbjahr 2022 durchgeführt.

Die Stabsstelle Prävention ist zudem Anlaufstelle für Fragen rund um das Thema Verhinderung von sexualisierter Gewalt im Bistum Dresden-Meißen.