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Bistum Dresden Meissen
Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrs-Vollversammlung. © Michael Baudisch
01. März 2023

Nach dem "Wir" suchen

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrs-Vollversammlung

am 27. Februar 2023 in Dresden

Lesung: Lev 19,1–2.11–18
Evangelium: Mt 25,31–46

Liebe Geschwister im Glauben!

Prag ist immer eine Reise wert. Hier in Dresden weiß man das, denn die beiden außergewöhnlichen Kulturstädte liegen nur eineinhalb Autostunden voneinander entfernt. Für die 39 Delegationen der katholischen Kirche aller
europäischen Länder hat sich vor wenigen Wochen die Reise nach Prag als eine besondere, ja, für viele sogar erstmalige synodale Kirchenerfahrung gezeigt. Zur kontinentalen Phase des synodalen Weges der Weltkirche wurden wir zusammengerufen und konnten erleben, wie vielfältig, unterschiedlich, vergleichbar und überraschend anders sich Katholizität in den Ländern und Regionen Europas darstellt. Der eine Glaube, die gemeinsame Lehre, dieselben
drei Wesensäußerungen der Kirche in Verkündigung, Liturgie und Caritas sind, viel mehr als es mir bisher bewusst, war abhängig von den kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in denen sich Glaube und Kirche
konkretisieren. Geprägt sind sie vor allem auch von den geschichtlichen Erfahrungen freier  Rntfaltungsmöglichkeiten auf der einen Seite, lange andauerndem Minderheitenstatus andererseits und nicht zuletzt einer jahrzehntelangen gewaltsamen Unterjochung in nicht wenigen Ländern. Und der Krieg in der Ukraine bestimmt dort aktuell auch das gesamte kirchliche Leben.

Diese kulturellen und geschichtlichen Erfahrungen sowie das daraus gewachsene Selbstbild der Kirche vor Ort prägen insbesondere den Blick auf die Gegenwartskultur einer überall zunehmenden Säkularität. Ist diese Zeit mit ihren Kennzeichen von Liberalität, wissenschaftlichem Fortschritt, Digitalität, Pluralität und demokratischen Entscheidungsstrukturen dem Glauben eher förderlich oder feindlich gesinnt? Ist sie Entfaltung christlicher Grundanliegen – stets mit kritischer Achtsamkeit zu betrachten – oder ist sie das Ergebnis zunehmender Gottesferne der Menschen und der Einflussnahme widergöttlicher, antikirchlicher und glaubensfeindlich aufklärerischer Mächte? Einfach gesagt: Ist diese Welt Gottes Eigentum – und wir mit unserem Glauben und
Vertrauen hineingestellt, um in ihr ein sichtbares Zeugnis der Güte und Barmherzigkeit Gottes abzulegen? Oder ist es längst an der Zeit, inmitten einer bedrohlichen Flut, wo die Menschen die Fundamente guten Lebens unter ihren Füßen verloren haben und in gefährliche Driften gelangt sind, eine sichere Arche der Zuflucht zu bauen, wo Planken klar die Grenzen markieren, wo ein sicheres Regelwerk gilt, das Wahrheit und Sünde eindeutig markiert? 

In diesem Sinne waren wir in den verschiedenen Delegationen in Prag füreinander eine echte Herausforderung, manchmal sogar eine gegenseitige Zumutung. Und doch war es uns in diesen Tagen geschenkt, uns nicht unversöhnlich gegeneinander zu exponieren. Mir wurde deutlich: Katholisch sein ist immer auch katholisch werden, denn es bedeutet, die Erfahrungen der Geschwister (nicht zuletzt auch der anderen christlichen Konfessionen) zu integrieren und als Ansporn zu nehmen, nach dem „Wir“ zu suchen, das wir nach dem Willen Christi und in der
großen Klammer des Glaubensbekenntnisses schon sind. Jedenfalls ermutigt mich Synodalität, dieser heute wiederentdeckte Stil des Kircheseins, Katholizität nicht als Standbild, sondern als gemeinsame Suchbewegung anzusehen. Das aber ist kein Spaziergang. Es mag mit dem Hören aufeinander beginnen, doch damit ist es längst nicht getan. Wir müssen sprechen, uns auseinandersetzen, Übereinstimmungen suchen, uns zueinander führen lassen und auch selber einen Schritt aufeinander zugehen. Und bei all dem ist das Wirken des Heiligen Geistes nicht nur etwas außerhalb unseres Vermögens, das einfach irgendwie über uns kommt. In uns, durch unser Ringen und Mühen und Freuen am gemeinsam Gefundenen hindurch wirkt er als einende und belebende Kraft.

In Prag wurde ein Stichwort häufiger als alle anderen genannt: Inklusion. Der große Wunsch danach, dass Kirche für viele Menschen die Türen öffnet. Und in dem Wunsch schwang oft die bittere Erfahrung mit, wie sehr die Signale und Praxis der Exklusion Menschen zutiefst verletzt haben, die ihr Leben aus dem Glauben heraus und mit der Kirche zu gestalten gewillt sind, aber sich nicht willkommen wissen. Es war die demütige Einsicht zu spüren, dass dies nicht dem Willen Christi entspricht, und dass es der Bitte um Vergebung bedarf für die vielen Wunden, die eine hartherzige kirchliche Selbstbehauptung geschlagen hat. Wer also ist das „Wir“ der Kirche, das wir so oft in den Mund nehmen? Und woran zeigt es sich? Wodurch wächst es? 

Vielleicht lag es an den Herausforderungen einer Simultanübersetzung bei so vielen kirchlichen Spezialbegriffen. Für mich jedenfalls wurde eine sprachliche Unschärfe zur Schlüsselerfahrung der Tage in Prag. Da sprach die Übersetzerin einmal von „Menschen Christi“. Und ich dachte, das ist es: Bist du ein Mensch Christi? Willst du ein Mensch Christi sein? Und willst du dich als solcher durch das „Wir“ der Kirche formen lassen? Dann gehörst du dazu. Dann bist du längst Teil des „Wir“. Wenn das gilt, und weil es gilt (wovon ich zutiefst überzeugt bin), brauchen wir für die künftige Entwicklungsphase der Kirche viel breitere Dynamik als bisher und eine viel größere Demut in unserer Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung. Wenn Kirche sich in vertiefter Aneignung der Volk-Gottes-Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils dynamisch versteht, als Kirche im Werden, braucht es dann nicht auch viel mehr Dynamik im Gottesbild, in Theologie und Frömmigkeit?

Braucht es nicht Kirche als bescheiden offenen Raum, der Menschen zum Staunen darüber einlädt, wo überall Gott in den Akten von Glaube, Hoffnung und Liebe in dieser Welt aufgefunden wird? Jesus selbst weist in der großen Rede vom Weltgericht in diese Richtung. Er nennt den „Code“, der über Bestehen oder Vergehen entscheidet: Menschen aller Völker und gleich welchen Bekenntnisses können ins Reich Gottes gelangen, wenn sie Barmherzigkeit üben; freilich nicht ohne Jesus, denn er ist als Menschensohn zugleich Richter. Jesus wählt ein beunruhigendes Mittel. Er erklärt sich solidarisch mit allen Bedürftigen. So ist niemand mehr vor ihm sicher. An jeder Straßenecke habe ich Gelegenheit, dem Weltenrichter zu begegnen. Das soll keine Drohung sein, und es
muss auch nicht ängstigen.

Allerdings macht mich dieses Wort zunehmend bescheiden, denn es stimmt ja, was ein orthodoxer Theologe (Kallistos Ware [1934–2022]) einmal ähnlich wie bereits das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat: „Wir wissen zwar, wo die Kirche ist, aber wir wissen nicht, wo sie nicht mehr ist.“ Manche nennen das Zumutung, auf mich wirkt es wie eine Verheißung – ähnlich wie das, was Tomáš Halík (*1948) in trefflicher Analyse aus den offensichtlichen
Grenzen autoritativer kirchlicher Wirksamkeit entwickelt: „Der Fluss des Glaubens hat sein ursprüngliches Bett verlassen; die Kirche hat das Monopol auf den Glauben verloren. Die kirchlichen Institutionen haben keine Macht mehr, ihn zu kontrollieren und zu disziplinieren; wenn sie das versuchen würden, würden sie einen weiteren Verlust ihres Einflusses und ihrer moralischen Autorität riskieren. Die Kirche als eine Gemeinschaft der Gläubigen, als eine
Gemeinschaft des Gedächtnisses, des Erzählens und des Feierns hat jedoch auch die immerwährende Berufung, dem Glauben zu dienen, und das sowohl mit ihren geschichtlichen Erfahrungen als auch vor allem mit der Macht des Geistes, der ‚in Tongefäßen‘ wohnt und wirkt“ (Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Freiburg-BaselWien 2022, 252). Trauen wir doch dem Geist und dem, was wir in all unserer Begrenztheit als
seine Spuren erkennen.


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