Umwenden und Staunen
Bischof Heinrich zu Weihnachten 2023
Der Gottesdienst beginnt, aber vorne im Kirchenschiff ist kein Priester zu sehen. „Sie müssen sich umdrehen, liebe Gemeinde.“ Erst zögerlich, dann aber doch drehen sich fast alle Mitfeiernden in den Kirchenbänken um. Der Blick ist nicht mehr nach vorne – in den Altarraum – gerichtet, sondern nach hinten. Grund dafür ist, dass ich vergangenes Jahr am Heiligen Abend im Gottesdienst aus dem Eingangsbereich unter der Orgelempore der Dresdner Kathedrale die anwesende Gemeinde begrüßte. Hier hatten wir die Weihnachtskrippe mit Maria, Josef und dem Jesuskind an einem neuen Platz aufgestellt – hinten, aber prominent platziert im Kirchenraum.
Das Umdrehen hat die Gottesdienstbesucher verwundert. Damit hatte niemand gerechnet. Ziehen wir doch normalerweise feierlich mit Weihrauch, Kreuz und Kerzen nach vorne. Das Umdrehen, das Überraschende des Moments, hat uns gleichzeitig in das Geheimnis von Weihnachten geführt. Denn verwundern: das ist göttlich.
Die Bibel ist voll verwunderlicher Erzählungen und Botschaften. Es gibt sogar ein Zitat, das Christen in den ersten Jahrhunderten Jesus zugeschrieben haben: „Wer sich wundert, wird das Königreich [Gottes] erlangen.“ Man könnte auch sagen: „Nur wer sich wundert, wird Gott erfahren können.“ (J. Bours). Damit haben wir nicht nur eine Umschreibung von Weihnachten, sondern auch des ganzen Lebens Jesu.
Gott kommt als Kind zur Welt
Es ist verwunderlich, dass Gott als kleines Kind in diese Welt kommen will.
Es ist verwunderlich, dass er die Schwachen seligpreist.
Es ist verwunderlich, dass er zur Feindesliebe aufruft.
Es ist verwunderlich, dass er am Kreuz sein Leben verschenkt.
Mit Jesu Geburt werden die Maßstäbe umgedreht. Er rückt mit seiner Person die Liebe ins Zentrum, die Situationen umdrehen, verändern kann. Wenn das Handeln eben nicht nur recht und billig ist, gemäß „Aug um Aug und Zahn um Zahn“. Wenn Menschen Dinge tun, die nicht notwendig erwartbar sind, sondern hingebungsvoll weit darüber hinausgehen. Wenn Menschen plötzlich umkehren, Schuld eingestehen, verzeihen…
Versöhnung angesichts der Gewalt
Umkehr und Versöhnung sind meine Weihnachtswünsche angesichts der Spirale der Gewalt in der Ukraine und im Nahen Osten. Vielleicht dürfen wir erleben, dass entgegen allen menschlichen Hasses Wundersames und Überraschendes passieren wird – es ist meine Hoffnung und mein Gebet.
Weihnachten feiern heißt, sich auf Wundersames einzulassen. Weihnachten lässt staunen. Weihnachten provoziert, den Nächsten staunen zu lassen.
Vieles an Ritualen, Zeichen und Schmuckwerk der Weihnacht laden uns ein, das Staunen einzuüben. Denn wir können es gut gebrauchen, nicht nur an Weihnachten. Wer in seinem Leben staunen kann – über den tiefverschneiten Winterwald, über das friedliche Flackern einer Kerze – der bleibt offen und sensibel für das immer Größere. Christen nennen es Gott. Das weihnachtliche Wundern und Staunen ist vielleicht auch eine Haltung, die wir uns das ganze Jahr über erhalten sollten. Sie werden uns helfen, Neuem und auch Fremden zu begegnen.
Weihnachten lädt ein, dass wir selbst Menschen werden, die andere positiv verwundern: Ob ein liebevolles Geschenk, eine kleine Geste der Aufmerksamkeit, ein freundliches Wort oder auch eine Entschuldigung. Das ist Weihnachten.
Ich wünsche Ihnen friedvolle und gesegnete Weihnachten, Ihr
+ Heinrich Timmerevers
Bischof von Dresden-Meißen