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Bistum Dresden Meissen
Rechtfertigt mit Blick auf die Entwicklungen der Corona-Pandemie eine mögliche Einführung der Impfpflicht: Bischof Heinrich Timmerevers.
25. November 2021

Bischof hält Einführung der Impfpflicht zur Eindämmung der Corona-Pandemie für ethisch vertretbar

Heinrich Timmerevers im Interview mit Thomas Baumann-Hartwig (Dresdner Neueste Nachrichten)

Übernahme des Beitrags
mit freundlicher Genehmigung der Dresdner Neuesten Nachrichten

Viele Bereiche des öffentlichen Lebens wie die Innengastronomie bleiben jetzt ungeimpften Personen verwehrt. Ist das ethisch vertretbar?

Aus meiner Sicht ist dies vertretbar, ja. Denn wir haben seit einigen Monaten die Möglichkeit, sich impfen zu lassen und damit nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch das Risiko zu minimieren, das Virus für andere auf andere zu übertragen. Wenn sich Menschen jedoch bewusst dafür entscheiden, dieses Impfangebot nicht in Anspruch zu nehmen und damit nicht für andere in der näheren Umgebung, aber auch für die Gesellschaft zur Gefährdung zu werden, dann ist es auch legitim, ihnen in ausgewählte Bereiche keinen Zutritt zu gewähren. Denn dieses Vorgehen dient sowohl zum Schutz für den Ungeimpften als auch für die anderen. Die Entscheidung ist demokratisch legitimiert und erhält die zum Leben wichtigen Bereiche aufrecht. Ich ahne, dass die Einschränkung noch harmlos ist zu dem, was sich am Horizont andeutet. Die Gefahr ist zu groß, dass schon in wenigen Wochen dieses Virus bei zu vielen eben nicht wie eine einfache Grippe wirkt, sondern unser medizinisches System in einen Anspruch nimmt, der unser Land überfordert. Deswegen wäre mir sogar lieber, wenn wir noch konsequenter wären und neben 2G in den kommenden Wochen für alle auf Testungen setzen, also das sogenannte „2G plus“.

Und ist es vertretbar, von Gastronomen die Kontrolle des Impfstatus ihrer Gäste einzufordern? 

Lassen Sie mich die Frage anders stellen: Ist es vertretbarer, dass die Gastronomen, Geschäfte und Kirchen ganz schließen. Da sehe ich eine Kontrolle und den dahinterstehenden Aufwand als das kleinere Übel an. Ich will die Mühe nicht kleinreden und kenne sie aus den Gemeinden ebenso. Es ist extrem aufwändig, vor jedem Gottesdienst zu kontrollieren und notfalls auch abzuweisen. Aber angesichts dieser sich irre auftürmenden Welle sollten wir es ins angemessene Verhältnis setzen. Entscheidend wird sein, ob die Gesellschaft – und zwar jeder an dem Ort, an dem er steht – für sich versteht und entsprechend in den Alltag übersetzt, was diese Pandemie in der vierten Welle bedeutet. Wer meint, es sei alles nicht so schlimm und im Gesetz für sich das nächste Schlupfloch sucht, wird es finden. Aber damit wird sich sein Beitrag verkleinern, diese Pandemie in den Griff zu bekommen.

Der Weltärzte-Präsident spricht von einer Diktatur der Ungeimpften. Ist es unsozial, sich nicht impfen zu lassen?

Ich gebe zu, dass sich mein Blutdruck erhöht, wenn ich Menschen treffe, die die Impfung verweigern. Ja, es fällt mir schwer, die Argumente zu ertragen. Denn ich vertraue der Medizin bei der Entwicklung des Impfstoffs. Ich vertraue den Prüfinstitutionen bei der Freigabe. Und ich vertraue auf die Erfahrungen angesichts der inzwischen milliardenfach verimpften Dosen. Natürlich sind dort Impfreaktionen zu beobachten, die im schlimmsten Fall bis zum Tod führen. Aber das Risiko, ungeimpft an Corona zu sterben oder mit Langzeitfolgen zu leben, ist nach der glaubwürdigen Einschätzung vieler Experten deutlich höher. Also allein aus der egoistischen Risikoabwägung heraus komme ich zu dem Schluss, mich impfen zu lassen und würde dies jedem empfehlen. Von der gesellschaftlichen Verantwortung aber auch für mein unmittelbares, familiäres Umfeld ganz abgesehen. Auch die Ethikkommission des Bistums spricht sich uneingeschränkt für eine Impfung aus.

Nun haben Sie mich aber nach der Diktatur der Ungeimpften gefragt. Ich könnte die Spirale der Beschimpfungen weiterdrehen. Jene, die meinen, es sei eher eine Diktatur der Geimpften, würden sich dadurch nicht umso mehr verstanden fühlen, sondern ebenso harscher reagieren. Haben wir dadurch einen einzigen gewonnen, sich nochmal Zeit zu nehmen, um über die Argumente für ein Impfen und die eigene Verantwortung nachzudenken? Jede Stigmatisierung ist die Schaufel, um den Graben des anderen noch tiefer zu graben. Genau das brauchen wir im Moment am wenigsten!

Ist es nicht eine Entscheidung, die jeder einzelne Mensch für sich selbst treffen muss?

Für den ersten Moment stimme ich Ihnen zu. Es geht um körperliche Unversehrtheit und um die Freiheit des Einzelnen. Ich will aber zwei Konsequenzen aufzeigen, die diese Freiheit bedeutet. Erstens: Wir können derzeit kleine Kinder nicht mit einer Impfung schützen. Selbst wenn sie aber einen leichten Verlauf haben, können sie so schwere Langezeitfolgen haben, dass die Freiheit des Erwachsenen die Zukunft des Kindes ruinieren kann.

Zweitens:  Selbst wenn der eine Ungeimpfte nur einen leichten Verlauf hat, ist das Risiko für andere Ungeimpfte höher, eine medizinische Behandlung im Krankenhaus zu benötigen. Alles deutet darauf hin, dass wir in den kommenden Wochen in Sachsen nicht mehr ausreichend Ressourcen haben werden, um alle bestmöglich behandeln zu können. Wenn es dann aber zu einem Unfall oder einer anderen Situation, wo Sie dringend Hilfe benötigen, ist für Sie – egal ob geimpft oder ungeimpft – nicht mehr ausreichend Kapazität da, um angemessen und schnell behandelt zu werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir eine solche Situation wollen.

Ich wünsche mir eine Bereitschaft der Menschen, die sich bisher nicht impfen lassen haben, ihre Haltung zu überdenken und aus der Verantwortung für den anderen und für die Gesellschaft sich impfen zu lassen. Und ich wünsche mir von jenen, die schon geimpft sind, dass sie nicht abschätzig auf die anderen herabschauen, sondern sie ermuntern, Freiheit und Verantwortung zusammenzudenken. Jetzt kann jeder zeigen, was es bedeutet, für den anderen da zu sein. Diese Pandemie ist ein Charaktertest.

Ich sehe, dass der Staat im Moment noch mit dem milden Mittel der Überzeugung versucht, die Verantwortung beim Einzelnen zu belassen. Ich halte es ethisch aber vertretbar, eine Impfpflicht einzuführen. Denn wo die eigene Freiheit um den Preis der Gefährdung anderer definiert wird, macht sie unser gesellschaftliches Solidarsystem kaputt und ist Egoismus mit Scheuklappen für die Not des Anderen.

Innengastronomie oder Großveranstaltungen sind nicht lebensnotwendig. Aber es werden auch Forderungen laut, im Krankenhaus einen Unterschied zwischen geimpften und ungeimpften Personen zu machen. Ist das eine vorstellbare Möglichkeit?

Man muss ja zwischen der Dringlichkeit der Fälle unterscheiden. Vorrang hat immer jene Person, die dringender eine Behandlung benötigt. Dabei muss aber egal sein, ob die Person geimpft oder ungeimpft ist. Mag sein, dass dies dem Gerechtigkeitsempfinden vieler widerspricht und Ärzte sowie pflegendes Personal auch demotiviert. Aber ich kenne keinen Zusatz im Grundgesetz, dass die Würde des Menschen nur für Geimpfte gilt. Und christlich gesprochen wurzelt diese Haltung zutiefst in der Nächstenliebe ohne Ansehen der Person. Im Ernstfall muss gelten: Vor aller Leistung und trotz aller Schuld.

Ein Arzt hat ein freies Bett und zwei Patienten: Einen ungeimpften und einen geimpften. Wer sollte das Bett erhalten?

Am liebsten wäre mir, wenn der Arzt sich bemüht, ein zweites Bett zu finden, um in Ihrem Bild zu bleiben. Aber faktisch spielen Sie ja auf eine Triage-Situation an. Und da gilt: Es bekommt der ein Bett, der es dringender benötigt. Bei einem Autounfall fragt doch der Notarzt auch nicht vor der Behandlung, wer den Schaden verursacht hat. Das meinte ich eben mit der Nächstenliebe, ohne moralisch die Vorgeschichte dazu zu bewerten.

Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit, die problematisch ist. Nämlich, ein Bett frei zu machen, damit beide Patienten ein Bett haben. Stellen Sie sich vor, ein Patient hatte vor zwei Wochen einen Herzinfarkt und liegt zur Behandlung bereits auf der Intensivstation. Wenn jetzt ein zusätzliches Bett für neue Fälle gebraucht wird, darf es nicht dazu kommen, dass man zugunsten der neuen Patienten sich dafür entscheidet, den bisherigen, vielleicht sogar ungeimpften Patienten nicht mehr weiter zu behandeln und die Geräte abzustellen, weil vielleicht die Erfolgsaussicht auf Heilung bei den beiden neuen Patienten höher ist.

Wir haben natürlich in den drei Möglichkeiten die extremste Notsituation vor Augen. Aber schon jetzt sind wir in einer Situation, die ich so nicht dulden möchte. Denn Patienten können im Moment nicht mehr im ausreichenden Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, weil die Ressourcen für die Covid-Erkrankten benötigt werden und damit alle nicht unmittelbar lebensbedrohlich Erkrankten zurückgestellt werden. Sie bekommen also schon heute und auf absehbare Zeit keine Termine mehr. Wenn es aber keine Vorsorgeuntersuchungen mehr gibt, werden schwere Erkrankungen erst in einem viel späteren, vielleicht lebensbedrohlichen Zustand entdeckt. Diese Not wird erst in einiger Zeit sichtbar werden. De facto entscheiden wir aber mit unserem Verhalten schon heute über einen unnötig frühen Tod von Menschen, auch wenn diese noch keine Patientenakte haben.

Wäre es moralisch vertretbar, ungeimpfte Personen an den Behandlungskosten zu beteiligen?

Nein, aus meiner Sicht nicht. Auf welche Weise wollen Sie auf eine Rechnung kommen? Wird der Ungeimpfte auch für die medizinische Behandlung seines gebrochenen Arms belangt? Werden wir nach der Pandemie dann auch Raucher und Übergewichtige an den Kosten für ihren Krankenhausaufenthalt beteiligen? Sie sehen schon, dass der Gedanke zunächst gerecht erscheint, aber schnell ad absurdum geführt ist. Selbst wenn der Tat-Folge-Zusammenhang so offensichtlich ist wie bei ungeimpften Covid-Patienten, ist unser Gesundheitssystem so stark, dass es ein Solidarsystem der ganzen Gesellschaft ist, auf das alle vertrauen können und das für alle in gleicher Weise da sein will.

Das bedeutet aber umgekehrt, dass sich jeder bemühen muss, dass es nicht überlastet wird. In dieser Krise gibt es einen ganzen Instrumentenkasten für den einzelnen, darauf Einfluss zu nehmen. Und ganz oben auf dem Kasten liegt die Spritze.

Wie weit darf die Ausgrenzung von ungeimpften Menschen gehen? Oder anders gefragt: Dürfen ungeimpfte Menschen ausgegrenzt werden?

Wo die Verantwortung für andere mit dem absoluten Anspruch auf die eigene körperliche Unversehrtheit endet, kann von der Gesellschaft nicht verlange, als Teil der Solidargemeinschaft vollkommen identisch behandelt zu werden. Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass die Würde des Einzelnen erhalten bleibt, mit allen in gleicher Weise in einer Notsituation umgegangen wird und – bei aller Spannung – der gesellschaftliche Frieden gewahrt bleibt. Das heißt, dass im Moment jeder dafür verantwortlich ist, die Dynamik der gegenseitigen Beschuldigung nicht weiter anzufeuern und zugleich jeder Verantwortung trägt, den anderen durch sein eigenes Handeln zu schützen. Dazu gehört auch, jedem zuzubilligen, dass er sich zu jedem Zeitpunkt noch umentscheiden und die Impfung erhalten kann, ohne dafür verurteilt zu werden, zu spät zu sein.

Gesellschaftliche Spaltung lässt sich nach vielen Kriterien formulieren: Arm und reich, gebildet und ungebildet, links und rechts. Wird es eine Spaltung zwischen geimpft und ungeimpft geben?

Diese Spaltung ist schon da. Die Nerven liegen blank. Die Blasen, die die eigene Meinung verstärken statt sie zu hinterfragen, sind stabil gefestigt. Beschimpfungen helfen nicht weiter. Lassen Sie uns gegenseitig mehr davon erzählen, was es für die eigene Familie in den kommenden Wochen und Monaten bedeuten kann, wenn Menschen dieses Virus unterschätzen. Lassen Sie uns hören, wovor Menschen sich fürchten, wenn sie geimpft werden würden. Und lassen Sie uns überlegen, wie angesichts der Einschränkungen der kommenden Wochen ein solches Miteinander möglich ist. Unser Land braucht ein Überzeugen statt ein Überwerfen.

Ich bin übrigens froh, dass die Kirchen das sog. 3G machen dürfen. Denn ich ahne, dass wir in den nächsten Wochen mehr Orte des Klagens und Trauerns brauchen. Ich hoffe, dass die jetzigen Maßnahmen zum pandemischen Wellenbrecher werden. Der gesellschaftliche Wellenbrecher danach wird nicht ohne Vergebung und Versöhnung auskommen.

Ungeimpfte Personen formieren sich häufig unter dem Label "Querdenken". Entsteht hier eine gesellschaftliche Bewegung oder ist das nur eine temporäre Erscheinung, die mit dem Abebben von Corona den Nährboden verliert?

Die wenigsten der Ungeimpften sind Querdenker und Systemverweigerer. Was nicht heißt, dass einige die Maßnahmen der Verantwortlichen, übrigens auch in der Kirche, für übertrieben und wirkungslos oder nicht angemessen halten. Eine Demokratie lebt davon, dass man es selbst künftig besser machen kann. Dafür gibt es Wahlen und Partizipationsprozesse. Diese sind auch während der Pandemie möglich.

Es ist aber keinesfalls hinnehmbar, dass politische Entscheidungsträger als Diktatoren beschimpft und in Telegram- oder Facebook-Gruppen als verrückt bezeichnet und dadurch in ihrer persönlichen Integrität beschädigt werden. Ich kann nur jeden auffordern, sich von solch einer persönlichen Schmähung zu distanzieren. Das ist nicht nur eine Frage politischer Kultur, sondern geschmacklos. Ich weiß, dass dies nicht viele betrifft. Aber das ist ganz klar die rote Linie, wo es nicht mehr um das Ringen des besten Umgangs mit der Pandemie geht, sondern um die Schädigung von Menschen.