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Bistum Dresden Meissen
Der Hamburger Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting. © Maike Raap, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
15. Juni 2022

Thomas Großbölting: „Vertuschung beginnt nicht erst im Generalvikariat“

Leiter der Aufarbeitungskommission spricht im Akademie-Podcast über seine Arbeit am Münsteraner Gutachten

Dresden. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster veröffentlicht der Podcast „Mit Herz und Haltung“ der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen ein Interview mit dem Hamburger Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting, der die dortige Gutachtenkommission geleitet hat. Im Unterschied zu den bisherigen Studien aus anderen deutschen Bistümern ging es im Münsteraner Gutachten erstmals um mehr als eine rein juristische Aufarbeitung: Das Forschungsteam der Universität Münster, bestehend aus einer Sozialanthropologin und vier Historikern, hatte das Ziel, das Geschehene nicht nur rechtlich zu bewerten, sondern auch in den gesellschaftlichen und politischen Kontext der jeweiligen Zeit zu stellen.

Neues Nachdenken über Macht- und Vertuschungsstrukturen gefordert

Großbölting zufolge stellt die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg 2010 weit weniger eine Zäsur dar, als bisher angenommen. In den Bistümern sei man seit den 1950er Jahren regelmäßig mit Missbrauchsfällen konfrontiert gewesen, so der Historiker. Über die Jahrzehnte verteilt könne man sehen, dass sich deutschlandweit circa alle drei bis vier Wochen in einem Bistum Personen in Leitungspositionen damit auseinandersetzen mussten. Zugleich plädierte Großbölting für ein intensiveres Nachdenken über Macht- und Vertuschungsstrukturen in der katholischen Kirche: „Vertuschung beginnt nicht erst im Generalvikariat oder im Sitz des Bischofs“, so der Historiker, sondern bereits dann, „wenn der Gemeinderatsvorsitzende den Mund hält oder wenn der Gruppenleiter der Jugendgruppe sich davor scheut, die Konfrontation mit dem in Verdacht stehenden Priester zu suchen“.

Kritik an der Zurückhaltung des Staates bei der Aufarbeitung

Des Weiteren kritisierte Großbölting, dass sich staatliche Institutionen bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Deutschland stark zurückhielten. Dies sei durch einen falsch verstandenen Respekt gegenüber der Kirche zu erklären, so der Historiker. Mittlerweile habe er aber den Eindruck, dass auch viele Menschen innerhalb der Kirche erkennen, dass diese als Institution allein mit der Aufarbeitung überfordert sei. Länder wie Irland bewiesen, wie sinnvoll es sein könne, wenn der Staat sich in der Aufarbeitung engagiere. Man dürfe jedoch keinen einmaligen „Befreiungsschlag“ erwarten. Letztlich werde es durch äußere Umstände wie den Mitgliederschwund und den Rückgang an Priesterberufungen zu Veränderungen in der Kirche kommen, schloss Großbölting.

Die gesamte Podcastfolge ist hier zu finden: https://lebendig-akademisch.podigee.io/183-die-mechanismen-der-vertuschung

Im Podcast „Mit Herz und Haltung“ der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen nehmen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Expertinnen und Experten verschiedener Fachdisziplinen Stellung zu den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Fragestellungen. Neue Folgen erscheinen in regelmäßigen Abständen auf Spotify, Deezer, Apple Podcasts, YouTube sowie auf den Websites der Akademie (http://www.lebendig-akademisch.de/podcast) und des Bistums (www.bistum-dresden-meissen.de).